Kölner Stadtanzeiger, 26.5.2000

Leitartikel

Ein Präsident geht neue Wege

In der Türkei stehen sich zwei Lager gegenüber

Von Gerd Höhler

Wenn der neue türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer durch Ankara fährt, dann braust sein Konvoi nicht über abgesperrte Straßen. Gewissenhafter als die meisten anderen respektiert Sezer das Rotlicht an den Kreuzungen. "Niemand steht über dem Gesetz", verkündete der Präsident gleich nach seinem Amtsantritt.

Glaubt man manchen Istanbuler Zeitungskommentatoren, hat mit der Wahl des bisherigen Verfassungsgerichtspräsidenten Sezer zum Staatsoberhaupt eine "neue Ära" für die Türkei begonnen. Ob das stimmt, zeigt die Zukunft. Aber ein Signal ist die Wahl des parteilosen Juristen.

Schon als Verfassungsgerichtspräsident ließ Sezer aufhorchen. Zum Beispiel, als er vor einem Jahr mehr Meinungsfreiheit in seinem Land anmahnte. Sezer setzte sich auch für eine Aufhebung des kurdischen Sprachverbots in Medien und Schulen ein. Jeden Normalbürger hätten solche Äußerungen in Konflikt mit der Justiz gebracht.

Dass er auch als Präsident seine Meinung zu sagen gedenkt, unterstrich Sezer gleich nach seiner Vereidigung im Parlament: Es gebe im gesellschaftlichen und politischen Leben der Türkei kein wirkliches Verständnis für die Demokratie, keine verwurzelte demokratische Tradition. Damit legte Sezer den Finger in die Wunde.

Selten hat ein Staatsoberhaupt in der Türkei so breite Zustimmung gefunden. Sogar die Islamisten begeistern sich für Sezer, obwohl unter dessen Vorsitz das Verfassungsgericht die religiöse Wohlfahrtspartei verbot. "Wie einer von uns" spreche Sezer, freut sich Recai Kutan, Chef der moslemischen Tugend-Partei. Und die militante PKK geht sogar so weit, Sezer als "Präsident aller Kurden" zu vereinnahmen. Nicht wenige türkische Intellektuelle glauben, Sezer werde dem Land die erst einen spaltbreit geöffnete Tür zur EU schon bald ganz aufstoßen.

Aber es kommen auch ganz andere Signale aus Anatolien. Wenige Stunden vor der Wahl Sezers ließen die Behörden in den unter Ausnahmezustand stehenden, überwiegend kurdisch besiedelten Südostprovinzen ein Dutzend Presseorgane verbieten. Während der neue Präsident vor dem Parlament mangelnde demokratische Traditionen beklagte, gaben sich die Staatsanwälte alle Mühe, ihn zu bestätigen: sie leiteten Ermittlungsverfahren gegen 16 prominente Intellektuelle ein, die jetzt in einem Sammelband unter dem Titel "Meinungsfreiheit 2000" eine Reihe in früheren Jahren verbotener Artikel erneut publizierten.

Das zeigt: es gibt starke Kräfte in der Türkei, die mit allen Mitteln die Demokratisierung des Landes hintertreiben. Es sind jene Kräfte, die man als den "tiefen Staat" bezeichnet. Das ist ein neues, inzwischen dominierendes Machtzentrum in der Türkei, die bis in die siebziger Jahre hinein zwei Pole kannte, das Militär und die Politik.

Der "tiefe Staat" ist ein mittlerweile bis in die letzten Winkel des Landes verästeltes, in jeden Lebensbereich reichendes gefährliches Gewebe. Die Spinne in diesem Netz ist der in den vergangenen Jahren immer weiter verselbständigte Sicherheitsapparat.

Der neue Präsident Sezer ist ein redlicher Mann. Anders als fast alle türkischen Spitzenpolitiker wird er mit Unregelmäßigkeiten nicht in Verbindung gebracht. Das könnte ihm Autorität geben. Aber zu glauben, der neue Präsident werde der Türkei im Alleingang eine "neue Ära" bescheren und die Eintrittskarte nach Europa lösen, ist angesichts der tatsächlichen Machtstrukturen naiv. Sezer selbst dürfte das am besten wissen.