Hannoversche Zeitung, 20.5.2000

"Die türkische Verfassung muss 2001 reformiert sein"

Als größter Stolperstein auf dem Weg der Türkei in die EU galt bislang der militärisch beherrschte Nationale Sicherheitsrat, über den die Generäle in Ankara den Politikern immer wieder ins Handwerk gepfuscht haben. Eher noch hielten Experten es für denkbar, dass die Türkei außenpolitische Probleme wie den Zypernkonflikt oder den Ägäisstreit mit Griechenland aus dem Weg räumen könnte. Oder dass sie innenpolitisch bei der Demokratisierung und der Beilegung des Kurdenkonflikts in Südostanatolien vorankommen würde. Die zivile Kontrolle des Sicherheitsrats hingegen wagten türkische Politiker nicht einmal anzusprechen - bis jetzt die Militärs selbst sie forderten. Vorbereitet hat diese Forderung ein ruhiger, kleiner Mann - und sie ist nur ein Spiegelstrich auf einer 18 Seiten langen Liste von Menschenrechtsforderungen, bei deren Umsetzung er obendrein aufs Tempo drückt: "Die türkische Verfassungsreform muss Ende 2001 abgeschlossen sein", sagt Gürsel Demirok, als Generalsekretär der Hohen Kommission für Menschenrechte beim türkischen Premierminister sozusagen der oberste Menschenrechtler der Türkei. Die Eile hat ihre Gründe: Erst mit einer stark überarbeiteten Verfassung lassen sich viele der gesetzgeberischen und administrativen Reformvorschläge umsetzen, die die 1997 ins Leben gerufene Kommission gemeinsam mit Menschenrechtsinitiativen, Rechtsanwaltsverbänden und anderen Nichtregierungsorganisationen formuliert hat. Gerade weil deren Forderungskatalog so weit reicht, ist er zugleich eine erschütternde Bilanz der Demokratiedefizite, die der Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU vorerst im Wege stehen: An gesetzgeberischen Maßnahmen schlägt die Kommission unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe und der Antiterrorgesetze, die Reform des Polizeigesetzes und des Presserechts sowie die Amnestie aller wegen Wahrnehmung ihrer Meinungsfreiheit inhaftierten Journalisten vor. Gefordert wird auch der Ausbau des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmer sowie des Tarif- und Streikrechts für Gewerkschaften sowie die Gewährleistung vollständiger Assoziationsfreiheit. Unter den administrativen Vorschlägen wird neben Maßnahmen gegen Behördenwillkür, die bis zu polizeilicher Folter reicht, auch die Aufnahme des Themas Menschenrechte in die Lehrpläne von Schulen und Hochschulen verlangt. Zu den Verfassungsreformforderungen zählen außer einer zivilen Mehrheit im Nationalen Sicherheitsrat die Abschaffung des militärisch beeinflussten Staatsgerichtshofs und die vollständige Unabhängigkeit der Gerichte. Eingeräumt werden müssten der Weg der Verfassungsklage, Verfassungsgarantien für die Betätigung nichtstaatlicher Verbände sowie die Einschränkung staatlicher Souveränität durch die Übernahme von EU-Regeln. Bei der konservativen politischen Kaste der Türkei stößt Demiroks Mängelliste zwar auf Skepsis. Aber der 55-jährige Demirok, der als Konsul seines Landes in Deutschland, Pakistan und den USA, beim "Erbfeind" Griechenland und ausgerechnet während des Golfkriegs in Kuwait im Einsatz war, ist Konflikte gewohnt und lässt sich nicht einfach einschüchtern. "Diese Forderungen sind unverzichtbar und auch nicht weiter aufschiebbar", betont der Diplomat. "Denn bis 2003 sollte die Türkei bei der Verfassungs-, Gesetzgebungs- und Verwaltungsreform ihre Hausaufgaben erledigt haben." Auch dieses Datum kommt nicht von ungefähr: 2003 soll die zweite Runde von Beitrittsverhandlungen mit EU-Kandidaten beginnen. Dafür wolle zu diesem Zeitpunkt auch die Türkei bereit sein, gibt Demirok zu verstehen - auch wenn mit ihr dann noch keine Verhandlungen aufgenommen werden. In dieser entspannten Sichtweise zeigt sich bereits eine positive Wirkung des 1999 beim Helsinki-Gipfel verliehenen EU-Kandidatenstatus. "Helsinki hat wichtige Impulse für die Demokratisierung der Türkei gegeben, die wir ganz unabhängig von einer EU-Mitgliedschaft benötigen", sagt Demirok.

Daniel Alexander Schacht, Ankara