taz 19.5.2000

Kommentar

Mehr Mut in der Debatte

EINWANDERUNGSLAND DEUTSCHLAND (8): Die Diskussion darf sich nicht nur auf Asyl und "Green Card" verengen. Grüne müssen auch eine geregelte Armutsimmigration forcieren

von MICHA BRUMLIK

Mit der Rede von Bundespräsident Rau - wie immer man ihre Einzelheiten bewerten mag - und der weitgehenden Zustimmung in allen politischen Lagern hat die Debatte über Deutschland als Einwanderungsland ihr offizielles Siegel erhalten. Ein Thema, das jahrzehntelang unter einer Lebenslüge tabuiert lag, erweist sich nun - neben der Rentenreform - als das entscheidende Zukunftsthema. Die vom Kanzler ins Spiel gebrachte, fälschlich so genannte Green Card, die in Wahrheit nur eine läppische Ausnahmeregelung vom Anwerbestopp ist, mochte dies beabsichtigt haben oder auch nicht - es spielt keine Rolle mehr. Die Auseinandersetzung über die Immigration ist im Zentrum der Gesellschaft angekommen, und nur diejenigen werden politisch obsiegen, die sich frühzeitig und begründet, intensiv und öffentlichkeitswirksam an ihr beteiligen.

Umso mehr muss die Verhaltenheit zumal der Grünen auffallen, die für diese Thematik einst Kompetenz reklamieren konnten. Das lässt sich nicht nur durch die allfällige Angst, den großen Koalitionspartner zu verstimmen, sondern durch ein ehrenwertes Motiv erklären. Tatsächlich ist nicht zu übersehen, dass Konservative und Liberale, auch in der SPD, dabei sind, ein Paket zu schnüren: Es soll ein Einwanderungsgesetz mit der endgültigen Aufhebung des ohnehin schon arg durchlöcherten Grundgesetzartikels zum Asyl erkaufen. Mit dieser Rhetorik erhoffen zumindest CDU und CSU, den rechtskonservativen Teil ihrer Wählerschaft bei der Stange zu halten. Endlich sitzt den Grünen seit den Koalitionsverhandlungen, der verpatzten Einführung eines neues Staatsbürgerschaftsrechts sowie der demagogisch von der CDU gewonnenen Wahl in Hessen die Angst im Nacken, weitere Wähler - zumal unter der Jugend - zu verlieren. Zweiundsechzig Prozent aller Jugendlichen, das hat die neueste Shell-Studie gezeigt, meinen, dass in Deutschland zu viele Ausländer leben. Allerdings hat sich Ängstlichkeit noch nie bezahlt gemacht. Es ist an der Zeit, sich ernsthaft mit dem Problem auseinanderzusetzen. Dabei hat es eine globalistisch denkende Linke in der Tat schwerer als politische Kräfte, die einem blanken Standortnationalismus huldigen.

Die zentrale Schwierigkeit der Linken liegt in einer Frage, die von der politischen Rechten als "Asylmissbrauch", von der Linken als Flüchtlingsproblem bezeichnet wird. Grundsätzlich lässt sich sowohl an den von Deutschland unterzeichneten und ratifizierten Menschenrechtsabkommen, aber auch rein moralphilosophisch zeigen, dass jeder Staat seinen Bürgern die Freiheit und das Recht lassen muss auszureisen. Mit diesem Recht korrespondiert umgekehrt die Pflicht der Staaten, verfolgte Flüchtlinge aufzunehmen. Im Unterschied dazu existiert aber weder eine moralische Pflicht noch eine völkerrechtliche Konvention, Immigranten aufzunehmen, die nicht in besonderer Weise verfolgt werden. Damit befinden sich Konservative und Liberale in der angenehmen Situation, dass sie utilitaristisch und standortnationalistisch einer höchst selektiven Immigration das Wort reden können. Den moralischen Anspruch fertigen sie mit der wohlfeilen Rede von europäischer Regelung und institutioneller Garantie ab. Für die Linke hingegen gilt: Auf Grund historischer Sensibilisierung und globalistischer Verantwortung kann sie das grundgesetzlich verbürgte Recht auf Asyl nicht preisgeben; gegen eine rein ökonomisch begründete Immigration ist nichts einzuwenden, da sie ökonomisch und rentenpolitisch einfach vernünftig ist. Die Achillesferse der Linken besteht darin, dass es angesichts ökonomischer Ungleichheiten auf dem heutigen Globus Millionen von Menschen gibt, die weder politisch, rassisch, sexuell oder religiös verfolgt werden, noch vom Hungertod bedroht, sondern einfach nur bitter arm sind. Es zeichnet sich ab, dass eine durch Armut motivierte Zuwanderung mittelfristig nicht mehr über den Asylparagrafen zu steuern ist. Deshalb, und das bedeutet angesichts der wohlstandschauvinistischen Grundstimmung in Deutschland eine besondere Schwierigkeit, wird sich die Linke offensiv zu einer Politik der Armutsimmigration bekennen müssen.

Das heißt zunächst, den Darwinismus und Utilitarismus der standortnationalistischen Immigrationspolitik durch einen deutlich humanitär moralischen Faktor aus weltgesellschaftlicher Verantwortung heraus zu ergänzen. Schon heute sollte klar sein, dass alle künftigen Quoten einen deutlichen Anteil für weder besonders gut ausgebildete noch besonders junge, noch unbedingt vor Gesundheit strotzende Immigranten aufweisen müssen. Das heißt des weiteren, sich rechtzeitig mit Konzepten für die ökonomische und soziale Integration anfangs armer, an unseren Kriterien gemessen minder gut ausgebildeter Immigranten auseinander zu setzen. Anders als in den USA kann ein Sozialstaat wie die Bundesrepublik nicht auf aktive Eingliederungshilfen verzichten - Hilfen, die bei ärmeren Schichten der ethnisch deutschen Bevölkerung die üblichen Neidreflexe erzeugen werden. Das bedeutet aber vor allem, auf dem Arbeitsmarkt selbst Einstiegsmöglichkeiten für minder qualifizierte Arbeitskräfte zu schaffen und etwa niedrig bewertete und vergleichsweise gering bezahlte Dienstleistungen zu ermöglichen. Dass dies mit gewerkschaftlichen Interessen konfligieren muss, ist unmittelbar einsichtig. Dass Armutsimmigration zu einer Spreizung der Einkommen und damit zu einer Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit beitragen kann, ist ebenfalls kaum zu bezweifeln. Es wird auch nicht immer möglich sein, mit durchaus stichhaltigen neoliberalen Argumenten darauf hinzuweisen, dass jede Immigration, auch die Armutsimmigration, letzten Endes Wachstum und Beschäftigung fördert.

Dieser schwierigen Diskussion können die Grünen nicht mehr ausweichen, wenn nach der jetzt altmodisch wirkenden Umweltpolitik und dem mit Gründen aufgegebenen Pazifismus nicht auch noch die letzte besondere Kompetenz verloren gehen soll. Die Grünen sind jene Partei, in der Immigranten einen hohen Anteil an Funktionsträgern stellen; sie sind jene Partei, die etwa mit den Dezernenten für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt, Daniel Cohn-Bendit und Jutta Ebeling, aber auch auf Bundesebene mit der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck Vorbilder und Schrittmacher waren und sind. Vor einer Politik der Armutsimmigration muss die Partei keine Angst haben. Aufrichtigkeit bei Zukunftsfragen hat sich noch immer ausgezahlt. Prinzipiell spricht nichts gegen einen klugen Mix von großzügiger Asylpolitik, wohldosierter, wirtschaftlich motivierter Wohlstandsimmigration und einer weltgesellschaftlich verantwortungsvollen Armutsimmigration. Die Grünen werden sich aus der Falle, sich bei den anstehenden Debatten zurückhalten zu müssen, um den Asylartikel nicht zu gefährden, nur befreien, wenn sie sich offen zu einer Politik der Armutsimmigration bekennen. Um einen geringeren Preis ist sinnvolles politisches Überleben derzeit nicht mehr zu haben.