Neue Zürcher Zeitung, 19. Mai 2000

Die Türkei im Taumel nach dem Fussballsieg

Gestärktes Selbstwertgefühl der türkischen Bevölkerung

it. Istanbul, 18. Mai

Seit dem unverhofften Sieg in Kopenhagen, wo die Istanbuler Mannschaft Galatasaray am Mittwochabend im Endspiel um den Uefa-Pokal mit 4:1 im Elfmeterschiessen gegen Arsenal London gewonnen hat, leben die Türken in euphorischen Höhen. Der Sieg wurde in Istanbul mit einer Kakophonie von Auto- und Schiffshupen, mit Feuerwerken und Gesang gefeiert. Zehntausende von Menschen strömten auf die Strassen, fielen sich in die Arme und tanzten bis in die Morgenstunden. Welchen politischen Stellenwert das Spiel in Kopenhagen hatte, zeigte sich daran, dass sich auf der Tribüne des Stadions 145 türkische Abgeordnete und zahlreiche Kabinettsmitglieder eingefunden hatten.

Meinungsumschwung in Europa? Für einen Grossteil der türkischen Bevölkerung war der Erfolg über Arsenal nicht nur ein Sieg auf dem Spielfeld. «Es war ein Gefühl wie am 9. September 1922», schrieb der Kolumnist von «Hürriyet», Oktay Eksi. Mit der Vertreibung der griechischen Armee wurde damals der türkische Befreiungskrieg besiegelt. Der einflussreiche Kommentator Mehmet Ali Birand machte einen Meinungsumschwung in Europa aus. Die Türkei habe in Europa das Ansehen eines Landes, in dem die Demokratie und der Rechtsstaat nicht funktionierten, die Menschenrechte mit Füssen getreten würden, die Meinungsfreiheit nicht existiere und die Folter weit verbreitet sei. «Nun erlebt Europa zum ersten Mal die Türkei unter einem ganz neuen Aspekt», der Anlass zu Lob und nicht zu Tadel sei.

«EU-Kriterien auf dem Spielfeld erfüllt» «Jetzt sind wir Europäer», erklärte der frühere Staatspräsident Demirel. Der Kampf in Kopenhagen hat das widerspruchsvolle Verhältnis der Türkei zu Westeuropa an die Oberfläche gebracht. Türkische Kinder lernen schon im zarten Alter, dass europäische Mächte nach dem Ersten Weltkrieg das Land hatten spalten wollen, dass diese also Feinde der türkischen Nation sind. Der Staatsgründer der modernen Türkei, Atatürk, strebte aber den Anschluss an die europäische Zivilisation an - ein Ziel, das Ankara seither konsequent verfolgt. Dass der Antrag der Türkei, der Europäischen Union beizutreten, abgewiesen wurde, liess hier ein Gefühl der Unzulänglichkeit aufkommen. Europa wolle die Türken nicht, weil die Türken Muslime seien, erklärten manche Politiker. Einen weiteren Dialog machte die Europäische Union von der Erfüllung einer Reihe von Bedingungen - im Bereich der Menschenrechte - abhängig, die auch als Kopenhagener Kriterien bekannt sind.