Neue Zürcher Zeitung (CH), 17. Mai 2000

Riss im türkisch-israelischen Verhältnis

Der Genozid an den Armeniern als Streitpunkt

Die seit mehreren Jahren ausgezeichneten politischen wie militärischen Beziehungen zwischen Ankara und Tel Aviv sind neuerdings einer ernsten Belastungsprobe ausgesetzt. Anlass dazu ist die völlig unterschiedliche Einschätzung des Völkermordes an den Armeniern.

it. Istanbul, 16. Mai

Ein erster Riss in den türkisch-israelischen Beziehungen ist in der letzten Woche unerwartet zu Tage getreten, als sich türkische Minister sowie Generäle demonstrativ geweigert hatten, an den Feierlichkeiten zum israelischen Nationalfeiertag teilzunehmen. Die Presse sprach von einem Boykott der türkischen Staatsführung und einer tiefen Missstimmung in den bilateralen Beziehungen. Alarmiert erklärte ein israelisches Botschaftsmitglied, dass Tel Aviv die «Botschaft aus Ankara nun erhalten hat». Allein der türkische Regierungschef Bülent Ecevit versuchte, versöhnliche Töne anzuschlagen, und gab sich vorerst unwissend. Er sei über einen Boykott seiner Regierung gegenüber Israel nicht unterrichtet worden, sagte er vor der Presse leicht verwirrt.

Deutliches Zeichen der Unzufriedenheit

In Ankara stand dennoch fest, dass vorige Woche sämtliche Kabinettsmitglieder vom Aussenministerium per internes Schreiben davor gewarnt worden waren, an den Feierlichkeiten in der israelischen Botschaft teilzunehmen. Wie es hiess, sollte der Boykott als Protest gegen die «antitürkischen Aktionen» eines Teils der israelischen Regierung verstanden werden. Dass die türkische Militärführung, die Mitte der neunziger Jahre trotz den heftigen innen- und aussenpolitischen Reaktionen den Ausbau der türkisch-israelischen Zusammenarbeit in die Wege geleitet hatte, diesmal den Feierlichkeiten in der Botschaft in Ankara fernblieb, dürfte Tel Aviv freilich mehr Kopfweh als die Abwesenheit der türkischen Politiker bereitet haben. Die Abwesenheit auch der militärischen Führung war ein klares Zeichen dafür, dass Ankara mit seinem engsten Alliierten im Nahen Osten tatsächlich unzufrieden ist.

Missstimmung gegenüber israelischen Amtsträgern war in Ankara erstmals am 24. April aufgekommen, dem Tag, an dem die Armenier weltweit des Genozids am armenischen Volk gedenken. Bei den Feierlichkeiten in Jerusalem bekundete der israelische Erziehungsminister Yossi Sarid damals seine Absicht, an den Schulen Israels künftig auch den Genozid an den Armeniern in das Unterrichtsprogramm aufzunehmen. Israel, das den Mord an 6 Millionen Juden während der Naziherrschaft im Zweiten Weltkrieg beklage, müsse an dem Massenmord an 1,5 Millionen Armeniern durch die osmanischen Türken Anteil nehmen, sagte er in einem vollbesetzten Saal in der armenisch-orthodoxen St.-James-Kirche. Dabei versprach er, schon ab dem nächsten Schuljahr das Buch «Die 40 Tage des Musa Dagh» in den Lehrplan aufzunehmen.

Verdrängtes Kapitel der Geschichte

Das Buch «Die 40 Tage des Musa Dagh» wurde 1929 vom Prager Schriftsteller jüdischer Herkunft Franz Werfel verfasst und beschreibt den erbitterten Widerstand der Bewohner eines kleinen armenischen Dorfes gegen die Übergriffe der osmanischen Truppen. Der Roman wurde erstmals im Frühling 1933 in Deutschland veröffentlicht, als Adolf Hitler bereits die Macht ergriffen hatte. Kurz nach der Veröffentlichung fielen Tausende von Exemplaren dieses Buches den Flammen zum Opfer. Das tragische Schicksal der Armenier in Anatolien bewegt noch immer einen Teil der jüdischen Intellektuellen. Immer wieder beziehen sich diese dabei auf einen berühmten Satz Hitlers: «Wer erinnert sich noch an die Armenier», soll dieser gesagt haben, kurz bevor er den Massenmord an den Juden verordnete.

Was sich genau in den Jahren zwischen 1915 und 1923 in den hauptsächlich von Armeniern bewohnten Teilen Südwest- und Südostanatoliens zugetragen hat, konnte nie umfassend von unabhängigen Wissenschaftern untersucht werden; unter anderem auch deshalb nicht, weil Ankara die osmanischen Archive unter Verschluss hielt und diese auch heute noch nur teilweise und nur unter gewissen Voraussetzungen der internationalen Geschichtsforschung zur Verfügung stellt. Laut armenischen Quellen sind damals «beim ersten Genozid unseres Jahrhunderts» in den Steppen Anatoliens von den Truppen der Jungtürken rund 1,5 Millionen Armenier massakriert worden. Diese Darstellung wird in Ankara aber vehement abgelehnt. Gemäss der offiziellen türkischen Sprachregelung sind damals rund 300 000 Armenier in den Wirren des Kriegs umgekommen. Daneben seien auch viele Türken von Armeniern umgebracht worden. Tatsache ist jedoch, dass in Anatolien, einst Urheimat der Armenier, heute höchstens noch vereinzelt Personen armenischer Herkunft leben. Tatsache ist auch, dass dieses dunkle Kapitel der Geschichte in der Türkei auch heute noch weitestgehend verdrängt wird.

Diplomatische Noten

Auch im Ausland möchte Ankara am liebsten sämtliche Debatten über den Völkermord unterbinden. Als der französische Senat plante, den 24. April zum Tag des Gedenkens an den armenischen Völkermord zu erheben, reagierte Ankara mit der Drohung, sämtliche der in grossem Umfang geplanten Waffenkäufe in Frankreich zu stornieren. Daraufhin liess Paris das Ansinnen fallen. Auch gegenüber Israel will Ankara ein Einlenken bewirken. Nachdem die Erklärung des israelischen Erziehungsministers in Ankara anfänglich Unruhe ausgelöst hatte, spitzte sich die Verärgerung in der türkischen Hauptstadt zu, als kurz darauf auch der israelische Justizminister Yossi Beilin Ankara aufrief, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen. Die Türkei will sich dem Vernehmen nach nun nicht mehr mit der Erklärung der israelischen Regierung zufrieden geben, es handle sich um persönliche Stellungnahmen ihrer Kabinettsmitglieder. Was Ankara will, ist eine verbindliche Zusage der Regierung, dass das Vorhaben des Erziehungsministers nicht verwirklicht werde.