taz 17.5.2000

Die türkischen Islamisten suchen die Reform

Beim Parteitag stellen die Modernisierer einen eigenen Kandidaten für den Vorsitz auf. Er scheitert - allerdings nur sehr knapp

ISTANBUL taz Ein hartnäckiges Gerücht in den türkischen Medien besagt, die Begeisterung der oppositionellen islamistischen Tugendpartei (Fazilet) für den gestern ins Amt eingeführten neuen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer habe einen ganz anderen Grund als dessen Eintreten für Meinungsfreiheit und individuelle Grundrechte. Den Islamisten liege nichts an einem Präsidenten Sezer, aber sie hätten im Parlament trotzdem für ihn gestimmt, damit er nicht länger Chef des Verfassungsgerichts bleibe. Denn wäre Sezer an seinem alten Schreibtisch geblieben, hätte er demnächst mit darüber entscheiden müssen, ob die Fazilet verboten wird oder nicht. Und in dieser Frage haben die Islamisten bereits einmal einen unliebsamen Zusammenstoß mit dem Richter Sezer gehabt. Der war nämlich maßgeblich am Verbot der islamischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi), der Vorläuferin der Tugendpartei beteiligt.

In der Tugendpartei geschieht nichts gegen Erbakans Willen

Obwohl also die Islamisten - wie übrigens auch die prokurdische Nationalbewegung - Erfahrung damit haben, bei Bedarf eine neue Partei zu gründen, haben sie dennoch große Angst vor einem neuerlichen Verbot. Es gehört zu den Konsequenzen eines Verbots, dass den führenden Funktionären das passive Wahlrecht für etliche Jahre aberkannt wird und sie dann nur noch aus den Kulissen heraus agieren können.

Seit die Wohlfahrtspartei vor gut drei Jahren verboten wurde, hat deshalb die große alte Führungsfigur der türkischen Islamisten, Necmettin Erbakan, Politikverbot. Gleichwohl ist Erbakan auf der politischen Bühne enorm präsent.

Nichts, so behaupten nicht nur die Staatsanwälte, die den neuerlichen Verbotsantrag für die Partei der Islamisten vorbereiten, geschieht in der Fazilet gegen den Willen Erbakans. Der Vorsitzende der Partei, Recai Kutan, sei nicht mehr als die Stimme seines Herrn. Wie Erbakan habe deshalb auch Kutan und mit ihm die Fazilet ein rein instrumentelles Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie, und wie zuvor die Wohlfahrtspartei, sei deshalb auch ihre Nachfolgerin eine Bedrohung der laizistischen Ausrichtung der türkischen Republik.

Nicht zuletzt um diese Argumente zu entkräften, hat sich innerhalb der Fazilet ein Flügel gebildet, der der Partei ein neues, moderates Image verpassen will. Die Galionsfigur dieser Modernisierer heißt Abdullah Gül. Wie er es wirklich mit der parlamentarischen Demokratie und dem Laizismus hält, ist schwer zu sagen. Offiziell ist die Fazilet ja insgesamt diesen Idealen verpflichtet, weshalb sich Gül in seinen öffentlichen Aussagen nicht von Kutan unterscheident, aber allein durch sein Auftreten, nimmt man ihm diese Bekenntnisse eher ab. Gül ist ein weltgewandter Managertyp, der gegenüber Journalisten schon mal erklärt, er mache auch lieber Urlaub in Florida als in Teheran. So verkörpert er den Bruch mit dem islamischen Hodscha, wie Erbakan und Kutan ihn verkörpern. Monatelang hat die Fraktion um Gül, deren heimlicher Chef angeblich der ebenfalls mit Politikverbot belegte, ehemalige Istanbuler Oberbürgermeister Tayip Erdogan ist, versucht, durch Arbeit hinter den Kulissen Veränderungen zu erreichen.

Nachdem sie damit keinen Erfolg hatten, gingen die Modernisierer in die Offensive. Erstmals in der Geschichte des politischen Islam in der Türkei wurde der Führer der Partei öffentlich herausgefordert. Abdullah Gül entschied sich, gegen den Willen des heimlichen Vorsitzenden Necmettin Erbakan, in einer Kampfabstimmung um den Vorsitz der Partei gegen Kutan anzutreten.

Der Parteitag fand am vergangenen Sonntag in Ankara statt und, endete mit einer - allerdings bemerkenswert knappen - Niederlage für Gül und das Lager der Reformer. Von den rund 1.200 anwesenden Delegierten erhielt Kutan nur 100 Stimmen Vorsprung vor Gül. Obwohl die alte Garde der Partei durch Verfahrenstricks noch versucht hatte, Güls Chancen zu minimieren, konnten sie nur mit knapper Not ihre Macht sichern.

Damit werden sich trotz der Niederlage der Modernisierer die Gewichte innerhalb der islamischen Bewegung verschieben. Schon um eine Spaltung zu verhindern, werden Gül und seine Anhänger in der Zukunft größeren Einfluss erhalten.

Die Zeit einer islamischen Revolution ist vorbei

Für den politischen Islam in der Türkei bedeutet das eine neue Chance. Erbakan und seine Anhänger haben ihren Zenit deutlich überschritten. Die Fazilet ist bei den Wahlen im April vergangenen Jahres von 22 auf nur noch 15 Prozent abgesackt. Die Aufdeckung der Greueltaten islamistischer Terroristen in den ersten Monaten dieses Jahres haben der Glaubwürdigkeit des politischen Islam weiter geschadet.

Der Niedergang der Mullahs im benachbarten Iran hat ein übriges dazu getan, die Vision eines Gottesstaates zu verdunkeln, so dass ein glaubwürdigeres Bekenntnis der Fazilet zur parlamentarischen Demokratie ihr -nicht nur gegenüber dem Staatsanwalt - sicher mehr nutzen als schaden würde. Die Zeiten einer islamischen Revolution, dass zumindestens haben Gül und seine Leute erkannt, sind in der Türkei ganz sicher vorbei.

JÜRGEN GOTTSCHLICH