Neue Luzerner Zeitung (VH), 17.5.2000

Türkei: Ahmet Necdet Sezer hat sein Amt angetreten

Der Präsident, der bei Rot hält

Der gestern vereidigte neue Staatspräsident der Türkei gilt als aufrichtiger Demokrat. Alle erhoffen etwas von ihm, Kemalisten wie Islamisten, die Kurden wie die EU.

VON BIRGIT CERHA, NIKOSIA

Die Medien, die türkische Öffentlichkeit, waren überrascht, als plötzlich im siedend heissen politischen Feilschen der Name Ahmet Necdet Sezer auftauchte. Mit einem Schlag hatten sich alle im Parlament vertretenen Parteichefs beruhigt und hinter den 59-jährigen Richter geschart. Der Schachzug von Premier Bülent Ecevits glückte. Indem er einen neutralen Mann von aussen, unbefleckt von politischen Intrigen, ohne Hausmacht, ohne Erfahrung im Ränkespiel der türkischen Politik, als Konsenskandidaten für die Präsidentschaft vorschlug, ersparte er der Türkei eine bedrohliche Krise. Im dritten Wahlgang erhielt Sezer, der bis dahin Chef des Verfassungsgerichts war, die nötige Mehrheit für das höchste Amt im Staat. Gestern hat er es angetreten. Sogleich gab er eine Kostprobe seines Amtsverständnisses: Den Präsidentenkonvoi liess er an jedem Rotlicht halten.

Schweigegebot

Über die Biografie des zehnten türkischen Präsidenten ist wenig bekannt. Seinen Familienangehörigen hatte der neu gewählte Staatschef striktes Schweigen über seine Person befohlen. So weiss die Öffentlichkeit vorerst nur, dass Sezer von seinen Freunden und Mitarbeitern als ehrlich, vertrauenswürdig und höchst integer geschätzt wird. Der Vater dreier Kinder lebt bescheiden, er raucht nicht, er liebt Theater und klassische Musik, gar nicht hingegen das Licht der Öffentlichkeit. Er gilt als ein Mann weniger Worte. Ein Schulfreund spricht vom ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der den späteren Richter schon in seiner Jugend auszeichnete. «Er zögerte auch nicht, gegen unfaire Methoden von Lehrern zu protestieren. Es wird sehr gut sein für die Türkei, wenn ein solcher Mann Präsident ist.» Der 1941 geborene Sohn eines als sehr autoritär beschriebenen Lehrers studierte Rechtswissenschaften an der Universität von Ankara und wurde 1983 zum Mitglied des Obersten Gerichtes ernannt. 1988 wurde er ins Verfassungsgericht berufen und zehn Jahre später zu dessen Vorsitzendem gewählt. Sein makelloser Leumund in finanziellen Fragen besitzt besonderes Gewicht in einem Land, in dem das Krebsgeschwür der Korruption grenzenlos wuchert.

Kemalist mit eigener Meinung

Politische Beobachter sind sich einig, dass Sezer seine Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten vor allem seiner gemässigten politischen Haltung verdankt. Er gilt zwar als überzeugter Laizist und treuer Anhänger der Ideologie des Republikgründers Kemal Atatürk und ist damit grundsätzlich für die allmächtigen Militärs akzeptabel. Doch er hielt sich stets aus politischen Streitfragen heraus. Einzig im Vorjahr erregte er Aufsehen, als er den Stand der Demokratie im Land kritisierte und energisch die Reform der Verfassung forderte, die im Geist der Militärdiktatoren 1983 erarbeitet worden war und seiner Meinung nach die Grundfreiheiten allzu sehr einschränke. Sie stelle die Rechte des Staates über jene des Individuums. Zudem fordert Sezer auch die Reform des Strafgesetzes, das insbesondere Kurden und Islamisten knebelt und in grossen Zahlen ins Gefängnis bringt.

Vertreter einer neuen Generation

Kein Zweifel, Sezer repräsentiert ein Gesicht der Türkei, das Europa gefallen könnte. Das Europaparlament beeilte sich denn auch, dieser «Stimme der modernen Türkei» sein Wohlwollen entgegenzubringen. Sezer vertritt eine neue Generation (sein Vorgänger Demirel ist 76, Ecevit 75). Die Islamisten, deren Tugendpartei vom Verbot bedroht ist, begrüssten begeistert Sezers Wahl. «Er ist einer von uns», sagte Parteichef Kutan, eine Bemerkung, die überzeugte Laizisten gar nicht gerne hören. Allzu grosse Toleranz gegenüber Islamisten und Kurden könnte vor allem auch den Militärs nicht gefallen. Doch Sezer wird kaum über das Ziel hinausschiessen. Er hatte als Chef des Verfassungsgerichtes einst ebenso für das Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei gestimmt wie für jenes der kurdischen Demokratie-Partei. So manche, die sich nach echter demokratischer Veränderung sehnen, hegen deshalb manche Zweifel, ob Sezer wirklich der Mann ist, der die Türkei in eine neue Ära führen und entscheidend dazu beitragen kann, die juristischen Hürden auf dem Weg in ein demokratisches Europa ausreichend beiseite zu schaffen.