junge Welt, 16.05.2000

Interview

Welche Perspektive hat die Verweigerung?

jW sprach mit Christopher Steinmetz, Mitarbeiter der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär in Berlin

F: Der 15. Mai ist der Internationale Tag der Kriegsdienstverweigerer. Welche Bilanz konnte an diesem Tag für die Kriegsdienstverweigerung in Deutschland gezogen werden?

Die Kriegsdienstverweigerung wird von immer mehr Jugendlichen als der richtige Weg empfunden. Im vergangenen Jahr wurden in der Presse neue Rekordzahlen bekanntgegeben: 174 347 junge Wehrpflichtige haben sich zur Verweigerung entschlossen. Das heißt, der Bundeswehr stehen immer weniger Wehrpflichtige für ihren Grundwehrdienst zur Verfügung.

F: Hat sich der NATO-Krieg gegen Jugoslawien auf die Verweigerungszahlen ausgewirkt?

Die Auswirkungen auf die Zahl der Kriegsdienstverweigerungen waren eher gering. Es gab zwar einen Anstieg, aber der liegt im allgemeinen Trend. Die Zahlen steigen seit zwei, drei Jahren kontinuierlich. Es ist eine Entfremdung zwischen den jungen Wehrpflichtigen und der Armee eingetreten. Eher bei den Soldaten war eine deutliche Reaktion festzustellen, und vor allem bei den Reservisten. Von ihnen haben sich sehr viele entschieden, daß sie diesem Krieg nicht zur Verfügung stehen wollen.

F: Steht die Diskussion um eine Berufsarmee im Zusammenhang mit der steigenden Zahl von Verweigerungen?

Seitens der Armeeoberen besteht da sicherlich ein Zusammenhang. Die merken natürlich, daß ihnen die intelligenteren jungen Menschen fehlen, weil sie nicht mehr durch den Grundwehrdienst die »Vorzüge« der Armee kennenlernen. Sie müssen sich überlegen, wie sie den qualifizierten Nachwuchs bekommen, den sie für ihre Interventionsarmee brauchen. Allerdings ist es leider auch nicht so, daß die Entscheidung für die Kriegsdienstverweigerung eine allgemeine Ablehnung der Armee bei den Jugendlichen bedeutet.

F: Wie beurteilt die Kampagne diese Entwicklung zur Berufsarmee?

Tragisch bis traurig. Eine Berufsarmee wird wahrscheinlich noch viel leichter und hemmungsloser die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands verteidigen.

F: Wie ist die Situation für Kriegsdienstverweigerer auf internationaler Ebene?

Deutschland und Österreich sind die letzten Länder in Europa, die überhaupt noch an diesem Modell der Wehrpflicht festhalten. Das heißt, für die Jugendlichen und Wehrpflichtigen in der EU stellt sich das Problem kaum noch. Problematischer ist es in den Ländern Osteuropas, auch in der Türkei und Rußland ist die Situation gerade sehr dramatisch, weil dort die Wehrpflichtigen nach wie vor als billiges Kanonenfutter eingesetzt werden und sie wenig Chancen haben, ihre Rechte durchzusetzen.

F: Können Kriegsdienstverweigerer im Ausland Asyl beantragen oder sich ins Ausland flüchten?

Das ist ein ganz großes Problem, denn viele Wehrpflichtige in diesen Ländern glauben den Versprechungen und der Selbstdarstellung der westeuropäischen Staaten und denken, sie werden in Deutschland geschützt und aufgenommen. Das ist leider ein folgenschweres Mißverständnis. Denn wenn sie herkommen, werden sie umgehend wieder in ihre Heimatländer abgeschoben. Das gleiche traf die jugoslawischen Deserteure, die dachten, sie würden hier Asyl bekommen oder wenigstens einen längeren Aufenthaltsschutz. Das hat sich nicht bewahrheitet.

F: Nun ist im Bundestag dem PDS-Beschluß stattgegeben worden, jugoslawischen Deserteuren zumindest vorübergehend Asyl zu gewähren. Wie ist das zu beurteilen?

Bis das umgesetzt wird, existiert weiter die Unklarheit. Und es ist auch keine dauerhafte Sicherung. Sie müssen nach wie vor damit rechnen, daß dieser Schutz irgendwann wieder aufgehoben wird. Gleichzeitig läßt vor allem die Bundesrepublik Engagement vermissen, bei der jugoslawischen Regierung darauf zu dringen, daß auch in zehn, 15 Jahren diese Leute rechtlich nicht verfolgt werden. Denn dort drohen ihnen Gefängnisstrafen bis 15 Jahre.

F: Muß man nicht jeden konkreten Fall einer politischen Analyse unterziehen, denn immerhin nutzte die Desertion auf jugoslawischer Seite erst mal dem Aggressor NATO.

Wenn man sich auf diese Argumentation einlassen will, dann ist es von Schröder und Scharping um so verwerflicher, daß sie die Leute dazu auffordern zu desertieren - und wenn sie hier sind, werden sie umgehend wieder abgeschoben. Und dort drohen ihnen dann natürlich drakonische Militärstrafen. Das ist eine sehr traurige Entwicklung. Sie zeigt aber zugleich, wie die Militärs in allen Ländern zusammenhalten, weil sie vor Desertion Angst haben. Zum Beispiel haben auch die Wehrmachtdeserteure bis heute kein Recht auf vollständige Rehabilitation.

F: Was fordert die Kampagne zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerer?

Daß in jedem Land jeder Mensch das Recht haben muß, seinem Gewissen zu folgen und den Kriegsdienst zu verweigern. Und er darf da keine Repressalien und Schikanen ertragen müssen. Wenn es überhaupt um eine gesetzliche Regelung eines Alternativdienstes geht, dann muß er wenigstens zu gleichen Bedingungen stattfinden.

Interview: Harald Neuber