Tagesspiegel, 13.5.2000

Reise der Woche

Über die tourismuspolitischen Aussichten des Landes nach Öcalan und dem Erdbeben

Gerd W. Seidemann

Wer heute die Türkei besucht, wird zwiespältige Gefühle haben. Einerseits beeindrucken nach wie vor die Gastfreundschaft der Türken sowie ein immer größerer Komfort und Service in den Hotels. Andererseits ist es etwas beklemmend zu sehen, wie auf den Tourismus als Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit und für eine dringend notwendige Verbesserung der Infrastruktur gesetzt wird. Nach einem katastrophalen Jahr 1999 will es die Türkei nun wissen. Mit einem Etat von 150 Millionen Dollar wirbt das Land seit Beginn dieses Jahres weltweit für den Urlaub zwischen Istanbul und Alanya. Allein auf dem deutschsprachigen Quellmarkt sollen in diesem Jahr 100 Millionen Dollar für die Imagewerbung ausgegeben werden. Nicht nur, aber vor allem auch die Türkei musste in den vergangenen Jahren erfahren: Der Tourismus ist ein scheues Reh. Unruhen, Anschläge oder auch nur die medienwirksame Ankündigung von Gewalt lenken die Schritte der Touristen in eine andere Region. Die Festnahme von Kurdenführer Abdullah Öcalan fiel 1999 just in die Phase, in der deutsche Urlauber üblicherweise ins Reisebüro strömen, um sich für die Hauptreisesaison ihren Platz am Pool zu sichern. Niemand wußte abzuschätzen, welche Konsequenzen der anstehende Prozess gegen den "Staatsfeind Nummer eins" haben würde, also sah man sich nach anderen, vermeintlich oder tatsächlich sichereren Urlaubsgefilden um. Etwa beim griechischen Nachbarn oder in Tunesien. Die Zahl der Türkei-Besucher sank denn auch im Vergleich zum Vorjahr um 22 Prozent auf 7,2 Millionen, die Deviseneinnahmen aus dem Tourismus nahmen entsprechend von 7,2 Milliarden auf fünf Milliarden US-Dollar ab.

Dass es nicht erheblich höhere Verluste gab, ist vor allem den Marketinganstrengungen der Türken im osteuropäischen Raum, insbesondere in Russland, zu verdanken. "Dort gab es keine Öcalan-Diskussion und durch ein Erdbeben lassen die sich auch nicht schrecken", bemerkte jetzt ein türkischer Tourismusmanager. Auch in Russland will man die Anstrengungen intensivieren, die mit Devisen ausgestattete Kundschaft an die türkischen Küsten zu ziehen.

Im Allgemeinen reagieren Touristen sehr sensibel auf politische Unwägbarkeiten, Naturkatastrofen und Ähnliches. Viele Länder - beispielsweise auch Ägypten - erleiden dadurch mit großer Regelmäßigkeit eine touristische Zwangspause und entsprechend große Einbrüche in der Devisenbilanz. Deshalb erscheint es unverantwortlich, wenn die Türkei den Ausbau des Tourismus mit deutlichen Zügen der Gigantomanie vorantreibt - und dabei Gefahr läuft, sich bei Deviseneinnahmen und Arbeitsplätzen in die Abhängigkeit einer Monostruktur zu begeben. Noch nimmt der Tourismus etwa in der Provinz Antalya mit seinem Beitrag zum Bruttosozialprodukt lediglich die dritte Stelle ein. Nach Landwirtschaft und Transportwesen. Doch das soll sich ja ändern. Und zwar möglichst rasch.

Die Buchungszahlen für das laufende Jahr sehen zwar positiv aus und eine Erhebung des Studienkreises für Tourismus, Starnberg, hat ergeben, dass bisher 8,9 Millionen Deutsche in der Türkei Urlaub gemacht haben und dass das Potenzial deutscher Urlauber sehr groß anzusehen ist. Ob sich die Prognosen und Ziele der türkischen Tourismuswirtschaft erfüllen, wird hingegen von Experten aus deutschen Veranstalterkreisen bezweifelt. So soll die Zahl der derzeit 350.000 offiziellen Hotelbetten - nicht gezählt sind kleine halblegale oder illegale Pensionen und Ferienwohnungen - auf eine Million im Jahr 2010 gesteigert werden. Die Zahl der Besucher soll sich bis dahin auf 25 Millionen mehr als verdoppeln, wobei die Deviseneinnahmen auf 20 Milliarden Dollar hochgerechnet werden.

Stolze Wachstumsraten im Tourismus mögen Minister in Ankara und Provinzfürsten zwar schmücken. Ob es für ein Land wie die Türkei in seiner (geo-)politischen Lage langfristig so weise ist, nahezu blindlings auf das Geschäft mit dem Strandurlauber zu setzen, darf jedoch bezweifelt werden.