Badische Zeitung, 12.5.2000

Die konservative Geistlichkeit kämpft derzeit um ihren Einfluss auf die Politik / Der Rückhalt bei den Bürgern schwindet

Der Wandel im Iran ist nicht mehr aufzuhalten

Von unserer Redakteurin Annemarie Rösch

Wie tief die Kluft zwischen dem iranischen Volk und den konservativen religiösen Führern ist, das zeigt sich immer deutlicher. So hat die Khomeini-treue Justiz erst jüngst 15 reformorientierte Zeitungen verboten. Bei den Nachwahlen zum Parlament jedoch hat die Bevölkerung am vergangenen Wochenende noch einmal ihren Wunsch nach Reformen bekräftigt.

Obwohl mit dem Verbot der Zeitungen die gesamte Reformpresse ausgeschaltet worden ist, gab es im Iran bisher noch keine nennenswerten Protestkundgebungen dagegen. Ganz anders sah es noch im vergangenen Sommer aus. Da reichte das Verbot von nur einer einzigen Zeitung aus, um die Studenten in Wut auf die Straße zu treiben. Auch Präsident Khatami, der die Reformer anführt, hat bisher ebenfalls darauf verzichtet, öffentlich Protest einzulegen.

Dass die reformwilligen Bürger und ihr Präsident so lange still halten, geschieht aus nüchternem Kalkül. Am 27. Mai soll das neu gewählte iranische Parlament das erste Mal zusammentreten. Erstmals hätten dort Abgeordnete ein ganz klare Mehrheit, die sich für größere politische und religiöse Freiheiten einsetzen wollen. Ist das Parlament erst einmal konstituiert, kann es gemäß iranischer Verfassung nicht mehr aufgelöst werden. Das lässt den Abgeordneten einen relativ großen Handlungsspielraum, wenn es auch zahlreiche Instanzen gibt, die ihren Veränderungswillen bremsen können. Sollte es jetzt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen, wäre die Gefahr groß, dass die konservative Geistlichkeit versucht, das Parlament erst gar nicht zusammen treten zu lassen. Schließlich hatte es bereits nach den Wahlen Versuche gegeben, einige unliebsame Kandidaten auszuschalten.

Wenn die konservativen Geistlichen auch alles versuchen werden, die Reformen zu stoppen - auf Dauer werden sie den Wandel nicht verhindern können. Dieser Einsicht scheint sich auch der mächtigste Mann im iranischen Staat, der religiöse Führer Khamenei, nicht völlig zu verschließen. Zwar zeigt er sich nach außen immer wieder als ein strenger Verfechter der Prinzipien der Revolution und unerschrockener Kämpfer gegen den Erzfeind, gegen die Vereinigten Staaten. Innenpolitisch jedoch versucht Khamenei sich in Mäßigung. Erst vor kurzem hat er wieder einmal Präsident Khatami gegen dessen Feinde verteidigt und ihm seine Unterstützung zugesichert. "Er weiß, dass die Geistlichkeit in Gefahr ist, wenn er den Willen der Wählermehrheit ignoriert", sagt Andreas Rieck, Iran-Experte am Deutschen Orientinstitut in Hamburg. So warnte Khamenei in der Stadt Qom führende Geistliche vor einer Haltung, die jegliche Reformen schroff ablehnt. Es bestehe dann die Gefahr, dass ihr Einfluss eines Tages wieder so gering sein werde wie zu Zeiten des Schahs. Dahinter steckt die Befürchtung, dass eine unzufriedene Bevölkerung einen gewaltsamen Umsturz anzetteln und den Staat unter Führung der Geistlichkeit hinwegfegen könnte.

Im Moment sieht Rieck jedoch keine Anzeichen für eine derartige Entwicklung. Anders als zu Zeiten des Schahs steht heute noch ein großer Teil der Bevölkerung hinter dem Regime der Mullahs. "Nach Schätzungen sind das noch immer zwanzig bis dreißig Prozent", sagt Rieck. Zu den Anhängern der konservativen Geistlichkeit zählen vor allen Dingen die ärmeren Bevölkerungsschichten. Mit zahlreichen Sozialleistungen und Subventionen hat es die Geistlichkeit verstanden, sie an sich zu binden. Zudem wollen Khatami und seine Anhänger keine Revolution. Sie setzen auf einen Wandel durch Reformen.

Doch selbst wenn sich das Land auf friedlichem Wege hin zu mehr politischen und religiösen Freiheiten bewegt, könnte die iranischen Geistlichkeit ihre Führungsrolle an der Spitze des Staates verlieren. "Es ist durchaus möglich, dass das System von innen heraus zusammenbricht, so wie etwa in der Sowjetunion, wo es auch keine Revolution gegeben hat", meint Rieck. Die Geistlichkeit habe im Verlauf ihrer Herrschaft zu viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt. "Khatamis Plan, das System zu reformieren und es gleichzeitig zu erhalten, wird nicht funktionieren."

Das würde das Ende des Prinzips von Khomeini bedeuten, das auf der Herrschaft der Rechtsgelehrten beruht. Vielen Muslimen in aller Welt wäre damit die Illusion genommen, dass ein Staat unter Führung der Geistlichkeit auf Dauer funktionieren kann - ein herber Schlag für die islamistische Bewegung, die jahrzehntelang für einen solchen Staat gekämpft hatte.