Frankfurter Rundschau, 12.5.2000

Ein Kulturschatz geht unter

Die Ruinen von Hasankeyf im kurdischen Südosten der Türkei sollen einem Staudammprojekt zum Opfer fallen

Von Dieter Balle (Hasankeyf)

Vahep Kusen, der Bürgermeister des 5000-Einwohner-Städtchens Hasankeyf, hat offensichtlich Angst. Als die deutsche Besuchergruppe ihn telefonisch um ein Gespräch über den geplanten Ilisu-Staudamm bittet, lehnt er bedauernd ab. Ein paar Tage zuvor hat er eine Auslandsreise nach Deutschland und England auf Druck seiner Vorgesetzen abbrechen müssen, erfahren wir. Schon beim Betreten der am Tigris gelegenen Kleinstadt wird klar, wer hier das Sagen hat: Der Armeeoffizier, der unseren Kleinbus gleich hinter der Brücke am Ortseingang stoppt, will genau wissen, wohin die Besucher gehen und wie lange sie wo bleiben will. Sein Ton verrät, dass es nicht ratsam wäre, von der angegebenen Route abzuweichen.

Hasankeyf ist ein uralter Handelsplatz mit den Resten einer Brücke, über die die legendäre Seidenstraße verlief, der uralte Handelsweg von China ans Mittelmeer. Der Tigris hat sich tief in den weichen Fels eingeschnitten und die Menschen haben Wohnungen hineingeschlagen, die im heißen Sommer wunderbar kühl sind. Einige wenige sind sogar noch heute bewohnt. Einzigartig für Anatolien ist die seit dem Mittelalter unveränderte Struktur der bewohnten Unterstadt sowie die archäologische Bedeutung der Oberstadt, deren Geschichte man anhand eindrucksvoller Zeugnisse islamischer und christlicher Baukunst verfolgen kann. Die Stadt war im 12. Jahrhundert die Hauptstadt der Artuklu und birgt Paläste, Moscheen und Medresen sowie die Reste christlicher Gotteshäuser. Doch bislang wurden die Ruinen von Hasankeyf nur ungenügend untersucht. Wissenschaftler gehen davon aus, dass dieser Ort Schätze bereithält, die bis in die Antike reichen.

Doch ob es jemals zu weiteren Grabungen und Forschungen kommen wird, ist fraglich, denn nach den Plänen der türkischen Regierung wird Hasankeyf in zehn Jahren bis zur Spitze der alten Moschee in den Wassern des Ilisu-Stausees versunken sein, der nach dem Atatürk-Staudamm der zweitgrößte in der Türkei werden soll. Das 1,5-Milliarden Dollar-Vorhaben ist Teil des ehrgeizigen Südostanatolien-Projekts GAP, das im Endausbau 22 Staudammprojekte zur Energiegewinnung und Landbewässerung vorsieht. 300 Quadratkilometer Land sollen allein im Rahmen des Ilisu-Projekts überflutet werden, was Massenumsiedlungen notwendig machen wird. Die türkischen Behörden gehen von 12 000 bis 16 000 Umzusiedelnden aus, die Londoner Menschenrechtsorganisation Kurdish Human Rights Projekt KHRP hat insgesamt 25 000 Menschen in über hundert Dörfern und Kleinstädten gezählt, die von dem Ilisu-Projekt direkt betroffen sind.

Konkrete Umsiedlungs- oder Entschädigungspläne gibt es jedoch bislang nicht, wie ein Bewohner bestätigt. Und wenn, die Bevölkerung werde ohnehin nicht in die Entscheidung einbezogen. Vom Staat erwarte hier kaum einer etwas, zumindest nichts Gutes. Vor ein paar Wochen ist eine private Firma hier gewesen mit einem Fragenkatalog nach Besitz und Umsiedlungswünschen. Er habe ihnen gesagt, er wolle nicht weg, da er hier geboren sei. Außerdem: Eine 1000 Jahre alte Kultur wegen eines Staudamms, der längstens hundert Jahre bestehen könne, zu opfern sei mehr als kurzsichtig.

Früher hat Hasankeyf durch den Handel mit Irak und ein bisschen Tourismus ganz gut gelebt, aber das Irak-Embargo und das völlige Ausbleiben der Touristen in den vergangenen Jahren als Folge des Kriegs zwischen der türkischen Armee und der Kurdischen Arbeiterpartei PKK hat die Kleinstadt schwer getroffen. Sie zählt heute zu den ärmsten Kommunen der Türkei.

Beim Aufstieg in die Oberstadt treffen wir den 17-jährigen Eyub. Hier oben wohnen nur seine Familie und die seines Onkels, deren Häuser teilweise in den Fels gehauen sind und zwischen den Ruinen lediglich durch eine mit Wäschestücken behängte Leine und die TV-Satelitenschüsseln hervorstechen. Sie besitzen rund 20 Ziegen und einige Hühner, die die ehemaligen Höhlenwohnungen als komfortable Ställe benutzen. Eyub ist Hirte und versucht, sich den wenigen Touristen als Ortskundiger anzudienen, um an ein paar Lira zu kommen.

Auch die Bewohner hier oben seien gegen den Staudamm, sagt Eyub, aber ein weiteres Gespräch ist nicht möglich, da mittlerweile zwei Zivilpolizisten aufgetaucht sind, die die Besucher nicht mehr aus den Augen lassen. Nach Ansicht der Kommission zur Rettung von Hasankeyf, in der sich angesehene Wissenschaftler und Privatpersonen aus der gesamten Türkei zusammengefunden haben, würde der Bau des Ilisu-Staudamms nicht nur gegen internationale Wasserabkommen, sondern auch gegen türkisches Recht verstoßen. Bereits 1981 wurde Hasankeyf in die Liste der denkmalgeschützten archäologischen Orte ersten Grades aufgenommen, an denen keinerlei Bauvorhaben erlaubt sind.

Doch die mächtige türkische Wasserbehörde DSI kann es sich offensichtlich leisten, solche Schutzbestimmungen zu ignorieren. Das DSI hat es im Einklang mit dem für den Bau verantwortlichen Konsortium unter Federführung der Schweizer Firma Sulzer Hydo Escher Wyss und des schwedischen ABB-Konzerns abgelehnt, die Dammhöhe zurückzunehmen, um dadurch wenigstens Hasankeyf zu verschonen. Während die Schweizer Regierung 1998 eine Exportrisikogarantie über 400 Millionen Franken unterschrieben hat, ist das Projekt, das die am Bau beteiligten Firmen zu hundert Prozent selbst finanzieren müssen, in Großbritannien und Italien höchst umstritten, wo Firmen ebenfalls Anträge auf Staatsbürgschaften gestellt haben. Auch die Sulzer-Tochter "Sulzer Hydro" im baden-württembergischen Ravensburg hat bei der Bundesregierung einen einen Hermeskredit für fünf Prozent der Bausumme beantragt, rund 150 Millionen Mark. Die Umweltorganisation Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung (Weed) spricht sich aber vehement gegen eine mögliche Zustimmung der Berliner Regierung aus.

Mit dem Staudamm könne der Weiterfluss des Tigris in die Nachbarländer Irak und Syrien für mehrere Monate unterbrochen werden. Durch dieses "Erpressungspotenzial", so Weed-Sprecherin Heike Drillisch, könne sich der Kampf ums Wasser in einer ohnehin konfliktreichen Region weiter zuspitzen. Die Weltbank habe bereits 1984 eine Beteiligung gerade wegen des außenpolitischen Konfliktstoffs abgelehnt. Mit der Übernahme einer Hermesbürgschaft würde sich die Bundesregierung am Bruch internationalen Rechts beteiligen, so Drillisch.

Ob Außenminister Joschka Fischer dem Druck aus dem Wirtschaftsministerium nachgeben und das umstrittene Projekt absegnen wird, ist weiterhin fraglich. Da in einem gemeinsamen Abstimmungsprozess in der Organisation für Entwicklung zu Zusammenarbeit in Europa (OECD) seit langem verhandelt wird, hält man in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen ein Scheitern des Gesamtprojekts kaum mehr für vorstellbar. Gleichwohl will man die Zusage eines Hermeskredits an "harte Konditionen" knüpfen, die in einem parlamentarischen Antrag festgelegt und gemeinsam mit der SPD verabschiedet werden sollen, wie ein Fraktionssprecher der FR sagte.

Neben der Einbeziehung der ortsansässigen Bevölkerung und einem Umsiedlungs-Monitoring sollen dazu Verhandlungen mit den betroffenen Nachbarn Syrien und Irak ebenso gehören wie die Prüfung von Alternativen der Stromerzeugung. Nach Ansicht von Fachleuten des Türkischen Ingenieurs- und Architektendachverbandes könnte man die durch Ilisu geplante Stromerzeugung von 3830 Gigawatt jährlich durch eine Sanierung des maroden Verteilernetzes und Energiesparmaßnahmen überflüssig machen.