Süddeutsche Zeitung, 11.5.2000

Blumige Worte oder Realität?

Der türkische Sicherheitsrat ist angeblich zu einer Reform bereit

An manchen Tagen glaubt man, die Türkei nicht wiederzuerkennen: Da fordert ein leibhaftiger Staatspräsident vordringlich den umfassenden demokratischen Umbau der Verfassung, da werden kurdische Bürgermeister, die noch vor kurzem hinter Gittern saßen, zu einem Empfang in den Präsidentenpalast in Ankara geladen, und da scheinen sich die mächtigen Generäle des Landes urplötzlich selbst abschaffen zu wollen.

In der Tat: In den vergangenen Tagen haben türkische Offizielle ein derart buntes Feuerwerk an wohlklingenden Ankündigungen und Versprechungen abgebrannt, dass es Beobachtern noch lange vor den Augen funkeln wird. Den lautesten Böller zündete dabei der Generalstab. Wie die Zeitung Milliyet berichtete, soll das Militär mit dreierlei einverstanden sein: Der allmächtige Sicherheitsrat, die wahre Regierung des Landes, soll reformiert und die Todesstrafe abgeschafft werden; die Putschisten von 1980 sollen unter bestimmten Umständen zur Rechenschaft gezogen werden können.

Bei aller Begeisterung über so viel Reformwillen ist jedoch Vorsicht geboten. Denn es ist nicht klar, wie ernst diese Vorschläge gemeint sind. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der türkische Staat vom osmanischen Reich die Kunst der Verstellung geerbt hat. Anders ausgedrückt: Worten müssen noch lange keine Taten folgen. Deshalb könnte auch für den vorliegenden Fall gelten, dass lediglich die Pralinenschachteln in der Auslage neu arrangiert werden, ihr Inhalt jedoch unberührt bleibt.

Die Reformvorschläge wurden von zwei ungenannten "Beratern" des Sicherheitsrats und des Generalstabs gemacht, die "im Namen des Kommandostabs" sprachen. Demnach könnten sich die Generäle vorstellen, die Zahl der Zivilisten im Sicherheitsrat um vier zu erhöhen. Bislang halten sich Militärs und Regierungsvertreter mit jeweils fünf Personen die Waage in dem Gremium. Doch solange der Generalsekretär des Sicherheitsrats ein Offizier ist, solange der Generalstab die Tagesordnung diktiert, und solange die zivilen Politiker in vorauseilendem Gehorsam alle "Anregungen" des Militärs als Befehle auffassen, wird die wahre Macht weiter in den Händen des Generalstabs liegen.

Potenziell sehr viel heikler sind der zweite und dritte Vorschlag: Wenn die Türkei das Protokoll Nummer sechs des Europarats über die Abschaffung der Todesstrafe unterschreiben sollte, würde schlagartig das Schicksal des zum Tod verurteilten PKK-Chefs Abdullah Öcalan wieder auf die Tagesordnung gelangen. Dabei versucht die Regierung ihr Möglichstes, Öcalan in Vergessenheit geraten zu lassen.

Am wenigsten vorstellbar ist, dass die Türkei die Verantwortlichen für den Militärputsch vom 12. September 1980 vor Gericht stellt. Während der Herrschaft von General Kenan Evren wurden Zehntausende Menschen verhaftet und gefoltert, Tausende verschwanden spurlos, viele wurden hingerichtet. Andererseits gilt Evren, der heute als Pensionär in Bodrum Bilder malt, als Vater der türkischen Verfassung. Allerdings soll auch diese nicht mehr unantastbar sein - wie Staatspräsident Süleyman Demirel bemerkte. Allein der Zeitpunkt seines Vorstoßes zeigt, wie wenig ernst zu nehmen er ist: Ihn trennen nur noch sechst Tage vom Ruhestand.

Wolfgang Koydl