Hannoversche Allgemeine Zeitung, 9.5.2000

Stillstand auf dem Weg nach Europa

Groß war der Jubel in der Türkei, als das Land beim EU-Gipfel von Helsinki im vergangenen Dezember als Kandidat für den Beitritt zur Europäischen Union anerkannt wurde; in Europa wurde der Beschluss heiß diskutiert. Beides hätte man sich sparen können, denn passiert ist seither nichts. Statt sich mit frischem Mut in die Arbeiten zur Anpassung des Landes an die EU-Standards zu stürzen, bremsten die türkischen Behörden ihre eifrigsten Europa-Politiker aus und steuerten die EU-Vorbereitungen in eine Sackgasse. Aus Frust über den erzwungenen Stillstand auf dem Weg nach Europa trat der energischste Verfechter proeuropäischer Reformen, Menschenrechtsminister Mehmet Ali Irtemcelik, jetzt von seinem Amt zurück; die Zuständigkeit für die Europapolitik war ihm ohnehin schon entzogen worden. Fünf Monate nach Helsinki macht die Türkei den Eindruck, als wolle sie sich mit der Anerkennung als Beitrittskandidatin zufrieden geben und den Beitritt selbst gar nicht weiterverfolgen. Der Sinneswandel könnte von einer staatlichen Bestandsaufnahme der für den EU-Beitritt notwendigen Reformen ausgelöst worden sein - denn danach müsste der ganze Staat völlig umgekrempelt werden. Offiziell begründete Irtemcelik seinen Rücktritt damit, dass ihm der rüde Umgang mit dem Parlament nicht gepasst habe, den Ministerpräsident Bülent Ecevit im Tauziehen um die Präsidentenwahl in den letzten Wochen gepflegt habe. In Ankara ist es aber ein offenes Geheimnis, dass die Demission schon lange geplant war. Der eigentliche Bruch erfolgte bereits kurz nach Helsinki, als Irtemcelik aus der Europapolitik ausgebootet wurde - offenbar wegen Übereifers. Als Staatsminister mit Zuständigkeit für Europapolitik und Menschenrechte hatte Irtemcelik entscheidenden Anteil daran, dass es mit der türkischen EU-Kandidatur in Helsinki endlich klappte. Türkische Menschenrechtler äußerten sich anerkennend über die Arbeit des Ministers, der unter anderem das erste Treffen zwischen Regierung und Menschenrechtsverbänden organisierte. EU-Vertreter schätzten den überzeugten Europapolitiker als aufrechten Gesprächspartner. Und als das Kabinett in Ankara nach dem Angebot von Helsinki stundenlang zögerte, ob es die von der EU gestellten Bedingungen annehmen oder ganz auf Europa verzichten solle, überredete Irtemcelik den Regierungschef zur Annahme. Irtemceliks Vorschlag zur Gründung eines eigenen Europaministeriums, das die Integration der Türkei in das EU-Gefüge vorantreiben sollte, ging den Europaskeptikern in der Regierung dann aber doch zu weit. Statt dessen wurde ihm im Januar die Zuständigkeit für Europa entzogen und auf drei andere Minister verteilt. Seither hat sich bei den Europa-Vorbereitungen überhaupt nichts mehr bewegt, wie auch EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen bei einer Tagung des Assoziationsrats vor einem Monat beklagte. Gereicht hatte es allerdings noch zu einer Bestandsaufnahme der für den EU-Beitritt notwendigen Reformen, die das Staatliche Planungsinstitut in Ankara kurz nach Helsinki vorlegte. Danach müsste die Türkei nicht nur grundlegende Veränderungen an Verfassung und Gesetzgebung vornehmen und etwa die Einschränkungen der Grundrechte durch Garantien derselben ersetzen, den Einfluss des Militärs kappen und die Macht der Ausnahmezustandsbehörden im Südosten beschränken, die erst in der vergangenen Woche wieder mehrere pro-kurdische Zeitungen verboten. Sie müsste auch ihr ganzes Selbstverständnis revolutionieren: Das türkische Demokratiedefizit rühre von der jahrhundertealten Tradition her, dass das Individuum dem Staat zu dienen habe, stellte das Planungsinstitut fest; das müsse sich vor einem EU-Beitritt umkehren. Damit rechnet zumindest Irtemcelik offenbar nicht so bald. Sein Rücktritt löste in Ankara allerdings keine Besorgnis über die EU-Perspektiven aus, sondern kommt den Parteistrategen wie gerufen. Denn das Verschwinden des Ministers vom Kabinettstisch macht dort einen Platz für seinen Parteivorsitzenden Mesut Yilmaz frei, der seine Präsidentschaftsambitionen begraben musste und deshalb voraussichtlich bald selbst einen Regierungsposten übernehmen wird.

Susanne Güsten, Istanbul