web.de, 07.05.2000 19:44

Wächterrat stellt Wahlergebnis in Teheran in Frage

Nach erneutem Sieg der Reformer bei Stichwahlen

Teheran (AP)

Unmittelbar nach erneuten Wahlsiegen der Reformer bei Stichwahlen zum iranischen Parlament hat der einflussreiche Wächterrat sich häufende Hinweise auf Wahlbetrug bei dem Erstrundensieg der liberalen Kräfte in Teheran gemeldet. In der Hauptstadt gewannen Verbündete von Präsident Mohammed Chatami am 18. Februar 29 von 30 Mandate und fügten den konservativen Klerikern damit eine empfindliche Niederlage zu. In einer Meldung des amtlichen Rundfunks vom Sonntag wurde eine Erklärung des Wächterrats zitiert, derzufolge 1.022 Stimmen für einen Kandidaten nicht gezählt und einem anderen 977 mehr gegeben worden seien, als er tatsächlich erhalten habe. Die Kontrollzählung sei zu 88 Prozent abgeschlossen.

«Indem wir mit der Neuauszählung fortfahren, finden wir mehr und mehr Diskrepanzen», hieß es in der Erklärung des über die Gültigkeit der Wahl entscheidenden Gremiums. Man wolle zurzeit aber noch keine Schlussfolgerungen ziehen. Erst müsse die Kontrollauszählung beendet werden, dann werde «entsprechend der Gesetze» verfahren. Die Reformkräfte gewannen bei der Wahl im Februar 120 und bei den Stichwahlen zwischen 47 und 52 Mandate in dem 290 Sitze zählenden Parlament. Die Hardliner kamen nur auf 70 Mandate und verfehlten erstmals seit der islamischen Revolution von 1979 die Mehrheit.

Ein politischer Kolumnist, der für mehrere von den klerikalen Kräften geschlossene Reformzeitungen schrieb, sagte, die Gegenspieler Chatamis wollten eine schwache, unfähige Vertretung der Reformer im Parlament erreichen. «Es kann erwartet werden, dass die Hardliner alles daran setzen werden, um ihre Macht zu erhalten», analysierte Achmed Siedabadi. Die prominenten und einflussreichen ins Parlament gewählten Reformer kommen allesamt aus Teheran. Ihre Disqualifikation würde die Reformkräfte nach Ansicht von Beobachtern erheblich schwächen. Zwölf Reformsiege sind bereits vom Wächterrat annulliert worden.

Einige Hardliner bezeichneten das Wahlergebnis der Tageszeitung «Bajan» zufolge als eine Schande. Laut dem Bericht äußerten sie Befürchtungen, dass die neue Medschlis Institutionen wie den Wächterrat abschaffen könnte. Die Reformer hingegen fürchten, dass das harte Vorgehen der Institutionen gegen Reformkräfte Auseinandersetzungen provozieren könnte. Die von Hardlinern dominierte Justiz schloss in den vergangenen Wochen 16 reformorientierte Zeitungen und ließ liberale Aktivisten festnehmen. Die fundamentalistisch orientierten Tageszeitungen ignorierten den Wahlerfolg der Reformer am Sonntag weitgehend.