Die Presse (A), 8.5.2000

Ahmet Necdet Sezer fliegen die Herzen im In- und Ausland zu

Türkei. Vom neuen Präsidenten wird erwartet, daß er sein Land demokratischer und rechtsstaatlicher macht.

Von unserem Korrespondenten JAN KEEtman

ISTANBUL. Wird Ahmet Necdet Sezer zum neuen Darling der Türken? Zwar hat der politische Newcomer erst im dritten Wahlgang die Kür zum Präsidenten geschafft, doch die Wahl des 59jährigen könnte in der verkrusteten Polit-Landschaft ein Signal einer Aufbruchsstimmung sein. Allerdings wurde das Wahlergebnis von 60 Prozent allgemein als mager betrachtet. Im Hinblick auf den Rückzug einiger Konkurrenten und angesichts der Tatsache, daß ihn schließlich alle im Parlament vertretenen Parteien auf ihr Schild hoben, ist das Resultat wahrlich nicht berauschend. Mochte dies auch ein Beweis für die Unberechenbarkeit des derzeitigen Parlaments sein und zu allerhand Spekulationen Anlaß geben, so fehlt es andererseits doch keineswegs an öffentlicher Zustimmung zu der Wahl Ahmet Necdet Sezers. Am stärksten war diese in seiner Heimatstadt Afyon, deren Bewohner bis in die Nacht hinein auf der Straße feierten, als wäre ihr Club türkischer Fußballmeister geworden. Sezer selbst erklärte, er werde unterstützt, "weil die Leute mich mit Gerechtigkeit assoziieren". Das mag großspurig klingen, ist aber nicht falsch. Selbst der Vorsitzende der islamistischen Tugendpartei, deren Vorgängerin, die Wohlstandspartei des Necmettin Erbakan, Sezer verboten hat, sagte über ihn: "Die wichtigste Seite an Sezer ist das demokratische Verhalten, das er bis heute an den Tag gelegt hat und das, was er bezüglich der Rechte unterstreicht. Das sind die Dinge, die die Türkei braucht." So fliegen die Herzen im In- und Ausland jenem Mann zu, der bis vor kurzem - jedenfalls im Ausland, aber ein wenig auch in der Türkei - ein absoluter Nobody war, und vom dem sich noch im November die US-amerikanische Außenministerin Madeleine Albright weggesetzt hatte, weil sie ihn nicht kannte. Von Sezer wird erwartet, daß er dazu beiträgt, die Türkei demokratischer und rechtsstaatlicher zu machen und sie auf diese Weise ein gutes Stück näher an Europa heranbringt. Als hochkarätiger Jurist soll er vor allem dazu beitragen, daß die türkischen Gesetze an die EU-Normen adaptiert werden. Allerdings braucht er für diese Vorhaben die Unterstützung von Regierung und Parlament. Die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten sind beschränkt und sollten nach Sezers Meinung sogar noch weiter eingeschränkt werden. Daß in der Türkei mit Sezers Wahl die Demokratisierung Einzug hält, wäre freilich irrig. Das Gegenteil demonstrierte die von Sezer wegen ihrer Stellung außerhalb jeder richterlichen Kontrolle heftig kritisierte Ausnahmeverwaltung in einigen hauptsächlich von Kurden bewohnten Provinzen noch am Tag seiner Wahl. Ohne Angabe von Gründen verbot sie acht Zeitschriften und vier Zeitungen. Doch wenn damit die demokratischen Bäume auch nicht sofort in den anatolischen Himmel wachsen, so darf man sich von Ahmet Necdet Sezer für die Zukunft trotzdem einige Veränderungen erhoffen.