Freitag, 5.5.2000

Manfred Mohr: Der heilige Zweck unheiliger Mittel

MENSCHENRECHT CONTRA VÖLKERRECHT

Für das UN-System gibt es da - im Prinzip - keinen Gegensatz

Schwere, systematische Menschenrechtsverletzungen können zur Gefährdung des Friedens führen - zur Erkenntnis dieser Kausalität bedurfte es keiner Auslegung der UN-Charta, die den Frieden gegenüber den Menschenrechten als gleich- oder gar höherrangig einstuft. Vielmehr bestand von Anfang an zwischen beiden Rechtsgütern eine Verbindung, die sich mit der Entwicklung des Völkerrechtssystems weiter ausgeprägt hat und in dem Satz gipfelt: Menschenrechte sind keine innere Angelegenheit mehr.

Die Möglichkeit der gewaltsamen Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen setzt allerdings voraus, dass eine unmittelbar friedensbedrohende Dimension erreicht wurde. Dann kommt die Entscheidungs- und Handlungskompetenz des UN-Sicherheitsrates ins Spiel - sie ist unerlässlich, um eine klare, autoritative Position der internationalen Gemeinschaft zu markieren und Missbrauch auszuschließen.

Dabei haben sich - zumindest begrifflich - im vergangenen Jahrzehnt gewisse Modifizierungen in der Praxis des Sicherheitsrates ergeben: Als friedensgefährdend und kompetenzbegründend werden zunehmend auch Fälle menschlicher Tragödien oder humanitärer Not- und Katastrophenlagen eingestuft. Dahinter verbergen sich komplexe Zustände schwerer Menschenrechtsverletzungen, häufig gekoppelt mit Verletzungen des humanitären Völkerrechts und mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Begonnen hat dieser Prozess mit der berühmten Resolution 688 (1991) zur "Kurdenfrage". Hier wurde die Friedensgefährdung noch von der Gefahr massiver Flüchtlingsströme sowie der Unterdrückung der Kurden hergeleitet. Die Somalia-Resolution 794 (1992) führte hingegen nur noch die "menschliche Tragödie" an. Die Kosovo-Resolutionen 1199, 1203 und 1244 stellten für die Kompetenzbegründung des Sicherheitsrates (nach Kap. VII der Charta) auf die drohende humanitäre Situation ab, da und soweit hierdurch eine Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit gegeben war. Gerade auf diese Kausalität wurde jedoch in Äußerungen der NATO kaum Bezug genommen - oft war dort nur generell von "Notstandsmaßnahmen" oder dem "Schutz von Leib und Leben" entsprechend "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" die Rede. Soweit es sich hier um Rechtfertigungen für Militäraktionen wie die NATO-Luftschläge gegen Jugoslawien handelte, konnte das im modernen Völkerrecht mit seinem umfassenden, gerade auch gegen Missbrauch gerichteten Gewaltverbot nicht greifen.

Etwas anderes galt im klassischen Vor-UN-Völkerrecht: Hier hatte die Doktrin der humanitären Intervention - der Ermächtigung ("zivilisierter") Staaten zu Militäreinsätzen, um eigene Staatsbürger im Ausland zu schützen, bis hin zur Okkupation - ihren festen Platz. Heute kann und sollte dieses schon terminologisch fragwürdige Konzept ebenso wenig wiederbelebt werden wie die spätscholastisch begründete Bellum-Iustum-Lehre.

Nun wird in diesem Kontext stets auch das Selbstbestimmungsrecht als grundlegendes Prinzip des gegenwärtigen Völkerrechts angeführt. Verankert in der UN-Charta war es die Basis für den Dekolonialisierungsprozess und ist darüber hinaus das rechtliche Fundament jedweder Staatlichkeit wie der einzelnen Menschenrechte. Das Selbstbestimmungsrecht ist zuweilen als so grundlegend angesehen worden, dass man hieraus mittels Analogie ein Selbstverteidigungsrecht des gewaltsam (von einer fremden oder der eigenen Regierung) unterdrückten Volkes abgeleitet hat. Dieses dogmatische Konzept (mit der Vorstellung einer "Dauer-Aggression") ist besonders nachdrücklich von der "östlichen" Völkerrechtslehre vertreten worden. Es finden sich hierzu aber auch Vertreter der "westlichen Schule".

Im humanitären Völkerrecht (Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen) gibt es insofern einen Reflex, als der Befreiungskampf der Völker als internationaler Konflikt behandelt wird. Das alles hat jedoch auf den "Fall Kosovo" keine Anwendung gefunden. Man ging hier stets - zuletzt in Resolution 1244 - von der Souveränität und territorialen Integrität Jugoslawiens aus. Den Kosovo-Albanern wird weder eine Volks-Qualität noch das Recht auf (gewaltsame) Abtrennung zugestanden. Man bewegt sich letztlich im Bereich des Minderheitenschutzes oder bestenfalls einer föderalen Selbstbestimmung. Die Sicherheitsratsresolutionen (1160, 1199, 1244) sprechen von substantial autonomy und meaningful self-administration.

Bekanntlich wurde im Kosovo eine UN-Missions-Struktur (UNMIK) mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, die unter Vermeidung der in Rambouillet angelegten militärischen Okkupation (durch die NATO) auf ein De-facto-Protektorat der UNO hinauslaufen.

Die Etablierung eines solchen Regimes war nur durch die UNO möglich. Unbeschadet der Ablehnung oder Zustimmung Jugoslawiens trägt dieses Vorgehen der UNO gewissermaßen Züge von Staatenverantwortlichkeit. Es hat aber - im Unterschied zum NATO-Luftkrieg - nicht den Charakter von Bestrafung oder etwa einer militärischen Repressalie. Beides ist nach gegenwärtigem Völkerrecht und seinem Friedens- und Souveränitätsverständnis ausgeschlossen.

Unser Autor ist Professor für Völkerrecht und Mitglied des Academic Council der International Association of Lawyers Against Neclear Arms (IALANA).