Neue Zürcher Zeitung (CH), 06.05.2000

Die Iraker - ein doppelt betrogenes Volk

Wenig Gewinner und viele Verlierer als Folge der Sanktionen

Die Auswirkungen der seit bald zehn Jahren dauernden Uno-Sanktionen sind im Irak überall sichtbar. Gleichzeitig hat sich eine Schattenwirtschaft etabliert, von der regimenahe Kreise profitieren. Im Süden, wo der Widerstand am ehesten spürbar ist, blüht der Schmuggel mit Erdöl. Dank diesen Einkünften vermag sich das Regime Saddam Husseins zu halten.

eer. Überall im Irak, in Büros, in Läden und in Privathäusern, fallen die vielen Uhren auf - meist geben sie die Zeit erstaunlich präzise an. Und doch ticken sie anders. Bereits die Einreise in den Machtbereich Saddam Husseins gestaltet sich heutzutage in einer Art und Weise, wie sie selbst in den entlegensten Winkeln der Welt kaum mehr vorkommen dürfte. Wer die 850 Kilometer lange Fahrt von der jordanischen Hauptstadt Amman nach Bagdad auf sich nimmt, muss mit einer Grenzkontrolle rechnen, die gegen drei Stunden dauert. Sämtliches Gepäck wird durchsucht, Leibesvisitationen sind alltäglich, und die Fahrzeuge werden minuziös inspiziert und wie im ehemaligen Ostblock selbst von unten kontrolliert. Die Schulung der verschiedenen irakischen Sicherheits- und Geheimdienste durch die DDR ist offensichtlich. Mit einem Bakschisch lässt sich eine förderliche Behandlung aber regeln. Auch der für Ausländer obligatorische HIV-Test entpuppt sich als simple Devisenbeschaffung des Regimes. Kassiert wird die Gebühr, doch der Test entfällt. Noch vor wenigen Jahren waren Bestechungsgelder im Irak nahezu unbekannt, und die Gesetze wurden eingehalten. Wie wenig ist von der kollektiven Moral der Iraker, den Preussen des Nahen Ostens, übriggeblieben.

Gegen Geld ist alles erhältlich
Nichts geht mehr im Irak. Nahezu alles ist kaputt. Die öffentliche Infrastruktur ist hoffnungslos verlottert, kaum etwas wird repariert. Bagdad erstarrt im Schmutz. Schuld an der Misere sind nach offizieller Lesart die USA und ihre Verbündeten, die nach wie vor auf den Uno- Sanktionen beharren. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die noch vor dem Golfkrieg gebaute sechsspurige Autobahn von der jordanischen Grenze bis zum Autobahnring um Bagdad. Sie hat den extremen Witterungsverhältnissen standgehalten. Die Iraker haben mit den traurigen Umständen zu leben gelernt. Eine perfekt funktionierende Schattenwirtschaft hat sich entwickelt. Trotz den Sanktionen ist fast alles erhältlich, etwa die neusten PC-Modelle inklusive Software, Heimelektronik sämtlicher internationaler Anbieter oder Autos aus allen Produktionsgebieten. Iraker dürfen nach den jüngsten Erlassen Fahrzeuge privat einführen, wobei Personenwagen amerikanischer und deutscher Provenienz mit einer Steuer von zehn, alle anderen mit einer solchen von fünf Prozent belastet werden. In den grösseren Städten zirkulieren modernste Fahrzeuge, manche aus dem verteufelten Amerika.

Verschwunden ist der Dollar-Schwarzmarkt. Es wird behauptet, das Regime verfüge über genügend Devisen, um das Aufkommen eines schwarzen Kurses jederzeit zu unterbinden. Heute erhält man für einen Dollar rund 2000 irakische Dinar. Nach dem Krieg gegen Iran war der Gegenwert des Dollars etwa 0,3 Dinar. Stark verbessert hat sich die Versorgungslage bei den Medikamenten. Sie sind überall erhältlich, sofern man über die nötigen Mittel verfügt. Da das Fundament der irakischen Gesellschaft nach wie vor stark auf der Grossfamilie basiert, ist in schweren Krankheitsfällen die medizinische Versorgung dank verwandtschaftlicher Hilfe meist gewährleistet. Entspannt hat sich während der letzten zwölf Monate auch die Versorgungslage auf dem Lebensmittelmarkt. Selbst in der Stadt Basra im Süden ist heute das Brot wieder geniessbar, seitdem das Mehl nicht länger mit Sägespänen und geriebenen Dattelkernen gestreckt wird. Das Leitungswasser verbreitet einen unangenehmen Geruch, der sich beim Kochen penetrant verstärkt. Einwandfreies Trinkwasser muss gekauft werden.

Die Stromversorgung wurde stark verbessert und erfolgt in Bagdad in jeweils sechs Stunden dauernden Intervallen. Im vornehmen Wohnquartier Mansur behelfen sich die Bewohner mit kleinen, benzingetriebenen Generatoren. Die Stromrationierung sei, so ist im Suk von Bagdad zu hören, eine der Terrormassnahmen des Regimes. Die Bevölkerung werde damit permanent an den anhaltenden Kriegszustand erinnert, mit welchen alle Entbehrungen als Folge der Sanktionen gerechtfertigt werden sollen.

Profiteure, Anpasser und Widerstand
Trotz der florierenden Schattenwirtschaft ist von Überfluss wenig zu spüren. Das ist bei den Einkommensverhältnissen breiter Schichten auch kaum möglich. Ein Lehrer verdient heute umgerechnet rund drei Dollar pro Monat, ein Ingenieur bei einer staatlichen Erdölfirma etwa 20 Dollar. In Mansur, wo die Reichen und Neureichen wohnen, wird derzeit enorm viel gebaut. Wer etwas auf sich hält und es vermag, baut sich eine protzige Villa. Die meist überaus hässlichen Häuser geben davon Zeugnis, wie sehr der Irak die Entwicklung der letzten 15 Jahre im Nahen Osten auch auf dem Gebiet der Architektur verpasst hat. Die direkten Lohnempfänger des Regimes, die Angehörigen der verschiedenen Geheimdienste und Spezialeinheiten der Armee leben in Ghettos, die von Aussenstehenden kaum betreten werden können. Daneben besteht aber jene Schicht einflussreicher Grossfamilien, die sich zwar anpasserisch verhält, der Regierung gegenüber aber grundsätzlich kritisch eingestellt ist. Dazu gehören einerseits die alten wohlhabenden Familien und anderseits die noch im Lande verbliebenen Intellektuellen. Obwohl auch sie sich arrangieren mussten, sind sie die letzten Garanten dafür, dass der Irak nicht total im Chaos versinkt. Auch ihnen hat aber der seit zwanzig Jahren andauernde Kriegszustand zugesetzt. Viele sind ausgewandert. Gegen Bezahlung ist ein falscher Pass relativ leicht erhältlich, und eine Ausreise wird möglich.

Widerstand gegen das Regime regt sich hauptsächlich im Süden. Auf der entlang dem Tigris verlaufenden Hauptroute von Bagdad nach Basra, die oft nur wenige Kilometer von der iranischen Grenze entfernt verläuft, häufen sich die zu kleinen Forts ausgebauten Armeestellungen. Bestückt mit schweren Maschinengewehren, manchmal auch mit einer oder zwei Flab-Kanonen oder einem leichten Panzer, sollen sie einen Korridor nach Basra sichern. Rund um die Posten haben gelangweilte Soldaten mit Steinen regimetreue Sprüche im Sand ausgelegt. Militärisch sind die Stellungen kaum von grossem Wert. Ihr eigentlicher Zweck dürfte eher darin bestehen, die Präsenz der irakischen Armee zu markieren. Dazwischen sieht man ab und zu iranische Rebellen der Volksmujahedin mit schweren Geländewagen und darauf montierten Maschinengewehren. Das Regime in Bagdad unterstützt sie bei ihren nächtlichen Übergriffen auf iranisches Territorium und lässt ihnen relativ freie Hand. Der Irak handelt sich dabei im Gegenzug Überfälle oppositioneller Exilgruppen aus Iran ein. Sie stossen nachts über die Grenze vor und greifen ab und zu eine Versammlung von Kadern der irakischen Regierungspartei Baath an oder dringen in deren Wohnungen ein, um sie zu ermorden. Deshalb wird in Basra der elektrische Strom bei Sonnenuntergang ein- und bei Sonnenaufgang wieder ausgeschaltet.

Die Strassenkontrollen bei der Einfahrt nach Basra und die Kontrollen zwischen den grösseren Quartieren und Vorstädten werden am Tag von normaler Polizei, nachts aber von Anhängern der Baath-Partei durchgeführt. Beim Gespräch im Suk in Basra wird der Regierung offen nur Schlechtes gewünscht. Ohne dass man seinen Namen auszusprechen wagte, wird der Staatschef als Teufel bezeichnet und voll Hass auf eines seiner omnipräsenten Porträts gezeigt. Dennoch ist im Süden nicht mit einem baldigen Umsturz zu rechnen. Selbst untergeordnete Parteikader verfügen in ihren Privathäusern über ein persönliches Kalaschnikow-Gewehr mit Munition. Auch eine verstärkte Einflussnahme Irans auf die irakischen Schiiten im Süden ist wenig wahrscheinlich. Sie haben während des ersten Golfkriegs am stärksten unter den iranischen Angriffen gelitten, und dies ist nicht vergessen.

Schmuggel am hellichten Tag
Die Insistenz, mit der die USA und Grossbritannien die Weiterführung der Sanktionen fordern, mutet bei einem Besuch des südlich von Basra gelegenen Hafens Abul Khassib eigenartig an. Zwei Dutzend kleinere Tanker sind hier zu sehen, die Rohöl und Dieselöl aus dem Irak schmuggeln. Sie werden bei hellichtem Tag beladen und fahren der Küste entlang in iranische Gewässer. Dort wird ihre Fracht als iranisch deklariert. Mit einem Abschlag von rund zwei Dollar pro Barrel für die Dienste Irans wird anschliessend ein Hafen in den Golfstaaten angelaufen. Dort kann die Ladung zu Weltmarktpreisen abgesetzt werden, auch in die USA. Dieser von mehreren Gewährspersonen beschriebene Handel verstösst gegen die Uno-Sanktionen und ist auch nicht durch das Programm «Öl gegen Lebensmittel» vorgesehen. Die Einkünfte aus dem Schmuggelgeschäft fliessen an den Uno-Kontrollen vorbei direkt in die Taschen des Regimes.

Nutzniesser seien, so erklärt man dem interessierten Besucher offen, sowohl die Regierung wie die USA. Saddam könne dank diesen Einkünften überleben, und Washington garantiere auf diese Weise in der Region zumindest auf absehbare Zeit hin eine gewisse Stabilität. Denn solange er am Ruder sei, tätige die amerikanische Rüstungsindustrie in den reichen Golfstaaten glänzende Geschäfte. Washington lasse sich auf diese Weise, so die Meinung mancher Gesprächspartner, für seinen Einsatz im letzten Golfkrieg entschädigen. Viele Iraker fühlen sich denn auch doppelt betrogen. Mit den Einkünften aus dem tolerierten Schmuggel vermöge sich Saddam an der Macht zu halten. Ihm seien die Sanktion aber auch darum willkommen, weil er damit alles Übel im Lande den Amerikanern in die Schuhe schieben und sein Unterdrückerregime dank dem permanenten Kriegszustand rechtfertigen könne.