taz 6.5.2000

Kommentar

DER NEUE PRÄSIDENT DER TÜRKEI HEISST AHMET NECDET SEZER

Die Person ist die Botschaft

Seit gestern hat die Türkei einen neuen Präsidenten. Überraschend daran ist nicht, dass Ahmet Necdet Sezer gewählt wurde, ungewöhnlich ist vielmehr, dass dieser Mann auch gestern den meisten Türken noch unbekannt war. Seit Ministerpräsident Ecevit vor knapp zwei Wochen den Namen des Präsidenten des Verfassungsgerichts zum ersten Mal ins Spiel brachte, rätselt die Öffentlichkeit darüber, wer dieser Mann, der gerade zum zehnten Präsidenten der Republik gewählt wurde, eigentlich ist. Für die Türkei ist Sezer in fast jeder Beziehung ein Bruch mit der bisherigen Tradition. Er ist weder ehemaliger General noch einer der Polit-Dinosaurier, die immer schon Präsident werden wollten. Während sein Vorgänger Demirel die politische Bühne der Türkei seit 40 Jahren entscheidend mitgeprägt hat, war Sezer bislang politisch nicht aktiv. Und während Demirel sich als gelernter Politiker jahrzehtelang vor jede sich bietende Kamera drängte, ist sein Nachfolger so öffentlichkeitsscheu, dass er seit seiner Nomierung noch kein Interview gegeben hat.

Verzweifelt quetschten die Medien in den letzten Tagen frühere Studienkollegen, Nachbarn und ehemalige Schulfreunde aus, doch ein Bild von der Person des neuen Präsidenten konnten sich die Türken bislang nicht machen. Wir kaufen eine Katze im Sack, murren die Kolumnisten. Die anfänglich sehr positive Reaktion auf die Nominierung Sezers schlägt langsam in Missmut um. Dabei gibt das wenige, was über den Verfassungsrichter Sezer bekannt ist, durchaus Anlass zu der Hoffnung, dass der neue Präsident für den Ausbau des demokratischen Rechtsstaats ein Gewinn ist. Seine Kritik am Status quo zielt auf die Gängelung der Meinungsfreiheit, staatliche Willkür und die Übermacht des Staates gegenüber dem Einzelnen.

Sezer ist kein Parteimann, er hat keine Seilschaft, und er ist keiner Hausmacht verpflichtet. Dass er dennoch Präsident wurde, verdankt er einer politischen Situation, die die Wahl eines bekannten Parteipolitikers ausschloss, und dem Geist einer Zeit, in der der Rückgriff auf einen Exgeneral nicht mehr opportun erscheint. Ahmet Necdet Sezer ist für die Türkei in doppelter Weise eine unbekannte Größe: Man kennt ihn als Person kaum, und die Rahmenbedingungen, innerhalb deren er arbeiten wird, sind offener als bei seinen Vorgängern. Die Türkei ist (sieht man einmal vom überragenden Einfluss der Militärs ab) wie Deutschland eine Kanzlerdemokratie, und der Präsident hat eine eher repräsentative Rolle - deshalb ist die Person selbst die Botschaft. Ahmet Necdet Sezer könnte der erste Präsident einer türkischen Zivilgesellschaft werden, wenn es ihm gelingt, mit dieser Gesellschaft zu kommunizieren. JÜRGEN GOTTSCHLICH