Frankfurter Rundschau, 6.5.2000

Ein Richter beerbt den "Sultan Süleyman"

Das türkische Parlament wählt den konservativen Reformer Ahmet Necdat Sezer zum neuen Staatsoberhaupt

Von Gerd Höhler

Jeden Morgen umrundet Ahmet Necdat Sezer schnellen Schritts das weitläufige Gelände des Präsidentenpalastes in Ankaras Nobel-Stadtteil Cankaya. Ab übernächstem Mittwoch kann der 58-Jährige seinen Frühsport auf der anderen Seite des hohen Zaunes machen. Am 17. Mai tritt der Verfassungsrichter Sezer die Nachfolge des scheidenden türkischen Staatspräsidenten Süleyman Demirel an.

Im den ersten beiden Wahlgängen verfehlte Sezer im Parlament noch die vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit, im dritten Anlauf benötigte er nur die absolute Mehrheit, und die kam am Freitagnachmittag bequem zu Stande. Mit der Wahl Sezers zum neuen Staatspräsidenten hat sich die Sorge des Regierungschefs Bülent Ecevit, die Präsidentenkür werde womöglich seine vor elf Monaten gebildete Koalition entzweien, nicht bewahrheitet.

Ecevit war es, der nach tagelangen fruchtlosen Beratungen seinen beiden Koalitionspartnern den parteilosen Verfassungsgerichtspräsidenten Sezer als Kompromisskandidaten vorschlug. Zur allgemeinen Überraschung fand Sezer nicht nur die Unterstützung der Vorsitzenden der drei Regierungsparteien.

Auch die Chefs der beiden Oppositionsparteien sprachen sich für Sezer aus. Ein solches Maß an Harmonie hat man in der Türkei, wo die zutiefst verfeindeten Parteichefs normalerweise einander mit Winkelzügen auszutricksen versuchen, lange nicht erlebt. "So etwas hat es in unserer Demokratie noch nie gegeben", staunte selbst Ecevit nach dem Auftritt.

Auf gleicher Linie lagen die Kommentare in den Medien. Die Übereinkunft, so Ilnur Cevik, Leitartikler der Turkish Daily News, signalisiere "einen dramatischen Wandel in der Türkei, und zwar zum Besseren".

Die Präsidentenwahl könnte tatsächlich eine neue Ära für die Türkei einläuten. Der Zivilrechtler Sezer wurde 1983 Richter am Kassationshof. 1988 berief ihn der damalige Staatspräsident Kenan Evren, der Anführer des Militärputsches von 1980, an das Verfassungsgericht. 1998 wurde er zu dessen Präsidenten gewählt. Sezer ist zwar kein Politiker, aber auch kein politisch unbeschriebenes Blatt. Vor einem Jahr sorgte der Richter für Aufsehen, als er in einer öffentlichen Rede zum 37. Jahrestag der Gründung des Verfassungsgerichts die Einschränkungen der Grundrechte, insbesondere der Meinungsfreiheit, in der Türkei kritisierte. Dabei sprach Sezer ausdrücklich auch die brisante Frage des kurdischen Sprachverbots in den Schulen und Massenmedien an. In Europa, so gab der Jurist zu bedenken, gebe es keine Vorschriften, in welcher Sprache man seine Gedanken äußern dürfe. Wenig später zitierte der des Hochverrats angeklagte PKK-Chef Abdullah Öcalan vor Gericht diese Worte und rief damit Sezer gewissermaßen zu seinem Zeugen auf.

Am Tag seiner Nominierung für das höchste Staatsamt legte der Verfassungsrichter nach. Wiederum in einer Rede zum Jahrestag der Gründung des Verfassungsgerichts mahnte er vorvergangene Woche eine Revision des türkischen Grundgesetzes an, das noch aus der Zeit der Militärdiktatur 1980/83 stammt und die Handschrift der Generäle trägt. Die Exekutive, so Sezers Kritik, habe gegenüber der Legislative zu viel Macht, die individuellen Freiheitsrechte seien eingeschränkt.

Ausgerechnet die Kompetenzen des Staatspräsidenten gehen dem künftigen Amtsinhaber Sezer zu weit. Vor allem sein Recht, die Mitglieder des Verfassungsgerichts zu berufen, sei ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung.

Trotz seiner Kritik an der Verfassung der Militärs genießt der Reserveoffizier Sezer das Vertrauen der Generäle, denn er gilt als unbeugsamer Verfechter der weltlichen Staatsordnung. In seine Amtszeit als Präsident des Verfassungsgerichts fiel das Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei. Dessen ungeachtet sprach sich auch die Führung der gleichfalls vom Verbot bedrohten religiösen Tugend-Partei (FP) für Sezer aus. "Wir sehen nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft", erklärte FP-Chef Recai Kutan. Die Islamisten setzen darauf, dass der neue Präsident für ein liberaleres Klima sorgen könnte.

Sezers Amtsperiode läuft bis 2007. Das werden wichtige, prägende Jahre für die Türkei sein. Nachdem das Land nun den Status eines EU-Beitrittskandidaten hat, muss es sich über sein künftiges Verhältnis zu Europa klar werden. Dazu gehören die Aufarbeitung der Menschenrechts- und Demokratie-Defizite, aber auch so heikle Fragen wie die Rolle des Militärs in Politik und Gesellschaft. Daneben gilt es die wirtschaftlichen Strukturreformen anzupacken und die zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren, wenn das Land den Anschluss an Europa finden will. Wie rasch oder wie langsam die Türkei auf diesem Weg vorankommt, liegt allein an ihr selbst. Und welche Rolle der Staatspräsident dabei spielt, hängt davon ab, was er aus seinem Amt macht.

Die ihm von der Verfassung gegebenen Kompetenzen sind begrenzt. Sezers Vorgänger verstanden es dennoch, sich zu politischen Schlüsselfiguren zu machen. Turgut Özal dominierte in den Jahren 1990-93 die Außenpolitik seines Landes. Er setzte sich selbstbewusst über die Militärs hinweg und schien kurz vor seinem plötzlichen Tod sogar willens und stark genug, die Kurdenfrage politisch zu lösen. Özal, der wohl visionärste türkische Politiker seit Atatürk, zeigte, was man aus einem begrenzten Verfassungsauftrag machen kann. Sein Nachfolger Süleyman Demirel entwickelte dagegen keinerlei Reformeifer, machte sich aber in seinen sieben Jahren als nationale Vaterfigur und behäbiges Denkmal der Stabilität so unentbehrlich, dass sogar der Premier Ecevit zuletzt glaubte, ohne ihn nicht mehr auszukommen. Doch der Versuch des Premiers, Demirel mittels einer Verfassungsänderung eine zweite Amtszeit zuzuschanzen, scheiterte im Parlament kläglich. Umso wichtiger ist nun für das Ansehen Ecevits, dass er Sezer durchsetzen konnte.

Der spröde wirkende Jurist, der sich im vergangenen Jahr einer Bypass-Operation unterziehen musste, hat weder die zukunftsweisenden Visionen eines Turgut Özal noch die Statur eines Demirel, den seine Bewunderer "Baba", seine Kritiker verächtlich "Sultan Süleyman" nannten.

Außenpolitisch wird er sicher weniger Einfluss haben als seine beiden Vorgänger. Innenpolitisch aber könnte er eine wichtige Rolle spielen. Dass Sezer nicht aus der politischen Szene kommt, keiner Partei angehört, nicht der Korruption oder illegaler Unterweltkontakte verdächtigt wird, kurz gesagt: dass er als "sauber" gilt, könnte ihm in den Augen vieler Türken mehr Glaubwürdigkeit geben, als seine Vorgänger je genossen.