Neue Zürcher Zeitung (CH), 3. Mai 2000

Explosiver Schwebezustand in Iran

Raketen-Angriffe in Wohnvierteln von Teheran und Bagdad

Die iranische Justiz, die eindeutig auf seiten der Konservativen steht, bemüht sich in dem Spionageprozess gegen 13 Juden bis anhin um Korrektheit, obwohl dies dem reformerischen Präsidenten, Khatami, zugute kommt. Die Exilopposition der Volksmujahedin hat sich mit einem Granatenanschlag in den inneren Konflikt eingemischt. Kurz darauf wurde ein Wohnviertel in der irakischen Hauptstadt Bagdad mit Raketen angegriffen.

vk. Limassol, 2. Mai

Die politischen Spannungen in Iran sind in dem Schwebezustand zwischen dem abtretenden konservativen Parlament und dem nicht fertig gewählten reformerischen Haus derart stark geworden, dass bald jeder beliebige Vorgang unabsehbare Konsequenzen in sich trägt. Die Justiz hat mittlerweile das 17. Presseerzeugnis verboten, diesmal im Kontrast zu dem bisherigen Frontalangriff gegen die Reformblätter die Wochenzeitschrift «Jebheh», die Stimme der konservativen Hizbullah-Aktivisten. Um das Bild abzurunden, legte Khatamis Musharakat-Partei («Beteiligung») als erste Protest gegen diesen Maulkorb ein, weil dadurch «eine abweichende Denkschule» unterdrückt werde. Die politischen Auguren rechnen angesichts der Verzögerungskampagne der Konservativen mit dem Schlimmsten.

Konturen eines sabotierten Wahlsiegs
Die Zeitung der offiziellen Nachrichtenagentur Irna, «Iran Daily», spekulierte am Dienstag über die Möglichkeit, dass der Wächterrat die Bestätigung der Wahlresultate für Teheran noch bis über die Antrittssitzung des neuen Parlaments hinauszögern und sie schliesslich ganz annullieren könnte. Dann würden das Präsidium des Hauses und die Ausschüsse ohne das Schwergewicht der Teheraner Reformer bestellt, und bei einer Nachwahl könnten die Wächter unter Berufung auf ihr Recht der Kandidatenselektion alle Zugpferde Khatamis ausschliessen. Damit wäre schliesslich der Wahlsieg der Reformer im Haus neutralisiert. Andere Liberale spielten der Presse einen Bericht über eine angebliche Krisensitzung konservativer Politiker aus dem Kommando der Revolutionswächter, der Polizei und vom Fernsehen zu. Dabei sollen die Mittel eines stillen Gegenputsches gegen Khatami erörtert worden sein, welche genau den jüngsten Vorgängen entsprechen: Schliessung der Reformpresse, Verhaftung liberaler Politiker und Denker und ihre Anschwärzung als Agenten Amerikas, Einschüchterung der Bevölkerung, Säen von Zwietracht zwischen dem Revolutionsführer Khamenei und dem Präsidenten, schliesslich die Absetzung Khatamis.

Vielbeachteter Spionageprozess
Das Verfahren vor einem Revolutionsgerichtshof in Schiras gegen 13 iranische Juden, das die amerikanische und die französische Diplomatie mit reichlichen Empfehlungen für eine faire Justiz verfolgen, beeinflusst dieses Ringen ein Stück weit. Ein korrekter Prozess müsste zur Wiederherstellung von Arbeitsbeziehungen mit Washington beitragen, wie sie Khatami zu den unumgänglichen Schritten einer wirtschaftlichen Erholung Irans zählt. Umgekehrt läge eine Brüskierung der USA durch eine «revolutionäre Bestrafung» der Juden im Interesse der konservativen Gegenspieler. Seit Beginn der aktiven Phase am Montag konzentrierte sich das Verfahren auf den Hauptangeklagten, den Schustergehilfen Hamid «Dani» Tefilin. Am Dienstag war eine zweite Sitzung angesetzt, um die Fälle der drei wichtigsten Mitangeklagten zu behandeln. Ein internationaler Menschenrechtsbeobachter wurde eigens vom Provinzvorsteher der Justizbehörde empfangen und informiert; dann konnte er offenbar auch mit dem Hauptangeklagten sprechen. Darauf äusserte er sich befriedigt über den Verlauf der Prozedur.

Der Justizsprecher sagte am Montag in Schiras, Tefilin habe ein umfassendes Geständnis zu allen Anklagepunkten, mit zwei Ausnahmen, abgelegt. Das Gericht wirft ihm Spionage für Israel vor; er soll beim Mossad einen Kurs für Nachrichtenübermittlung besucht und den Israeli Geheimmaterial und Dokumente aus Iran zugespielt haben. Der Anwalt Tefilins erklärte, der Mandant habe in seiner Gegenwart das Geständnis bekräftigt. Anderseits konzentriert sich die Verteidigung auf die Fragwürdigkeit eines Geständnisses, das unter dem Druck der Untersuchungsbehörde und ohne Rechtsbeistand abgelegt wurde. Die Anwälte haben erst seit Prozessbeginn Zugang. Wenn der zuständige Richter Nurani, der im Revolutionsgerichtshof zugleich als Staatsanwalt fungiert, die Anklage für umfänglich erwiesen erachtet, droht eine schwere Strafe. Der Justizsprecher machte auch Dokumente und Beweismaterial zulasten der Angeklagten geltend: Demnach liegen bisher vier Geständnisse vor. Journalisten berichten unter Berufung auf Justizkreise, dass der Rest der Angeklagten als Informanten der vier Hauptpersonen belangt wird. Ein eigentlicher Spionagering sollte angeblich den Nuklearreaktor von Bushehr sowie die Rüstungskooperation mit Russland und China auskundschaften. Das Verfahren dürfte sich auf etwa drei Wochen Dauer beschränken, nachdem die Angeklagten mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht haben. Drei der Juden sowie acht mitangeklagte Muslime sind vor Prozessbeginn auf Kaution freigekommen.

Granatenangriff der Volksmujahedin
Am Montag mischte sich erneut die iranische Exilopposition der Volksmujahedin in die innere Auseinandersetzung, indem ihre Aktivisten in der Nähe des Vanak-Platzes im Norden Teherans sechs Mörsergranaten auf ein Polizeihauptquartier abschossen. Nach iranischen Angaben schlugen freilich mehrere davon in einer benachbarten Sport- und Kulturanlage ein, wo sechs Zivilisten verletzt wurden. Ein Sprecher der Exilgruppe warb um Sympathien der Reformer, indem er als Ziel des Angriffes das Büro jenes Polizeigenerals, Lutufian, angab, welcher im vergangenen Sommer den Sturmangriff auf ein Teheraner Studentenheim angeordnet hatte. Die Regierung Khatami verurteilte den Übergriff und geisselte Bagdad als Schutzherrn der Gruppierung. Noch am gleichen Abend ereignete sich in der irakischen Hauptstadt ein Angriff, der einer Vergeltung sehr ähnlich sah. Sechs Raketen schlugen nach offizieller Angabe in einem Wohnviertel für Iraker und Palästinenser ein, wobei acht Zivilpersonen verletzt wurden. Ein noch blutigerer Angriff hatte sich schon am 21. März in diesem Viertel ereignet. Bagdad machte einen «iranischen Agenten» für die Tat verantwortlich und drohte mit Rache. Die Vergiftung der Nachbarbeziehungen ist nicht im Sinne Khatamis, der in den Golfstaaten unter dem Titel gegenseitigen Respekts um Vertrauensaufbau bemüht ist.