Frankfurter Rundschau, 2.5.2000

IM HINTERGRUND

Kein Wandel in der Türkei

Menschenrechtlerin vermisst die Hilfe der EU

Von Hans Engels (Bielefeld)

Eine politische Wende hin zu einem wirksamen Demokratisierungsprozess und zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage ist nach Ansicht der türkischen Anwältin Eren Keskin gegenwärtig nicht in Sicht. Vielmehr fühle sich die Türkei durch die Zusicherung des EU-Kandidatenstatus in ihrer bisherigen Politik gestärkt.

"Man soll nicht erwarten, dass durch den Kandidatenstatus automatisch Veränderungen stattfinden," versicherte Keskin jetzt während einer mehrtägigen Vortragsreise in Deutschland. Die Anwältin ist als stellvertretende Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins IHD eine der führenden Bürger- und Menschenrechtlerinnen der Türkei. Sie hielt sich unter anderem auf Einladung der Flüchtlingsorganisationen "Wanderkirchenasyl" und "Kein Mensch ist illegal" in Deutschland auf und wurde von der Vizepräsidentin des nordrhein-westfälischen Landtags empfangen.

"Obwohl die Türkei EU-Kandidat ist, wurde der Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen verlängert", referierte Keskin vor gut 200 Zuhörern im Bielefelder Rathaus. Nach wie vor würden Ermittlungsverfahren wegen Folter nicht zugelassen, erläuterte die Anwältin am Beispiel von drei Opfern, die sie seit Jahren selbst vertritt. "Folter wird als Vernehmungsform nach wie vor angewendet". Als einziger kleiner Fortschritt könne gelten, dass für den Nachweis von Vergewaltigung neuerdings psychologische Gutachten anerkannt würden.

An der Praxis, die Organisationsfreiheit etwa von Arbeitnehmern und die Meinungsfreiheit einzuschränken, habe sich nichts geändert. Einer der prominentesten Fälle: Der Vorsitzende des IHD, Akin Birdal, sitzt wegen eines Meinungsdeliktes ein. Die Zahl der gegen sie selbst laufenden Verfahren könne sie nicht genau beziffern, so Keskin, die bereits eine sechsmonatige Haftstrafe verbüßt hat und zu zwei weiteren Jahren verurteilt ist. Der Vollzug sei auf Grund eines neuen Gesetzes im Vorfeld der EU-Entscheidung um drei Jahre verschoben worden.

Als Kriterien eines ernsthaften Demokratisierungsprozesses nennen die Menschen- und Bürgerrechtler unter anderem die Einführung einer "zivilen Verfassung" anstelle des nach dem Militärputsch von 1980 eingeführten Artikelwerks. Der Ausnahmezustand in den Kurden-Provinzen - quasi Kriegsrecht - müsse aufgehoben, die Staatssicherheitsgerichte, die Todesstrafe und "alle Hindernisse gegen freie Meinungsäußerung" abgeschafft werden. Alle Minderheiten müssten Freiheitsrechte erhalten. "Kein antidemokratischer Staat ändert sich automatisch", meint Keskin, die nicht sehr optimistisch ist, dass von der EU oder einzelnen Mitgliedsstaaten allzugroße Hilfe zu erwarten wäre.

Als der türkische Kandidatenstatus beschlossen wurde, "wusste die EU, in welcher Intensität Menschenrechtsverletzungen passieren". Statt über "wirtschaftlichen Druck" für einen Demokratisierungsprozess nachzudenken, werde aber "über weitere Waffenlieferungen" diskutiert. Wichtig seien Unterstützung und Solidarität ausländischer Nicht-Regierungsorganisationen und Initiativen.

Kritisch geht die Bürgerrechtlerin auch mit der eigenen Gesellschaft ins Gericht. So beklagten Umweltorganisationen zwar das Verbrennen von Wäldern in der Westtürkei, äußerten sich zur Waldvernichtung im Südosten aber nicht. Frauenorganisationen setzen sich zwar mit Vergewaltigungen in Istanbul auseinander, nicht aber mit der sexuellen Gewalt gegen Frauen in den Kurdengebieten.

Keskin in Bielefeld: "Es stellt sich die Frage, warum es keinen Druck für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage gibt, indem zum Beispiel alle Arbeiter einen Tag lang streiken."