Neue Zürcher Zeitung (CH) 28. 04. 2000

Richterliche Vollzugskontrolle im Asylbereich

Die Rekurskommission noch nicht über den Pendenzenberg

Die Asylrekurskommission hat im vergangenen Jahr Eingaben von 11 154 (Vorjahr: 8628) Personen behandelt. Die Zahl der hängigen Fälle nahm aber immer noch zu, weil sich der Rückgang der neuen Asylgesuche erst verzögert auswirkt. In verschiedenen Einzelfragen hat die Beschwerdeinstanz die Praxis präzisiert. Von SVP-Seite wird die richterliche Kontrolle des Gesetzesvollzugs erneut kritisiert und nach einem Eingreifen der Exekutive gerufen.

C. W. Asylbewerber, deren Gesuch vom Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) abgelehnt worden ist, können bei der Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK) Beschwerde einlegen. Dieses richterliche Organ entscheidet nur auf Grund des Gesetzes, unabhängig von konkreten politischen Vorgaben. Wichtige Urteile werden publiziert, so dass die massgebende - sehr differenzierte - Asylpraxis transparenter wird. 1999 gingen laut dem nun veröffentlichten Jahresbericht bei der ARK in Zollikofen Beschwerden und Revisionsgesuche von 12 193 Personen ein, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Obwohl 29 Prozent mehr Eingaben als 1998 erledigt werden konnten, stieg die Zahl der Pendenzen erneut, um 10 Prozent gemessen an den betroffenen Personen (10 636), um 2 Prozent gemessen an den Verfahren (5411).

Verzögertes Auf und Ab

Bei der ersten Instanz, dem BFF, hatten die Gesuche bis Ende Juni 1999 wegen des Kosovo- Kriegs stark zugenommen und gingen dann deutlich zurück. Bei der ARK zeigt sich die Entwicklung jeweils in Phasenverschiebung. Hier ist eine Trendwende nach Angabe des Informationsbeauftragten, Magnus Hoffmann, noch nicht in Sicht; eine Abnahme der Zahl der Neueingänge sei aber eine Frage der Zeit. Die grosse Zahl der erledigten Fälle erklärt sich hauptsächlich durch die 5500 (Vorjahr: 3200) bloss formellen Entscheide (Nichteintreten, Rückzüge usw.). Ein grosser Teil davon betraf ebenfalls Vertriebene aus Kosovo, deren Gesuche oft gegenstandslos geworden sein dürften. - Die Rekursbehörde zählte Ende Jahr 147 Personalstellen. Die 21 ordentlichen Richterinnen und Richter wurden durch 6 ausserordentliche verstärkt, die juristischen Mitarbeiter wurden ebenfalls vermehrt. Der Ausbau wirkte sich indessen erst nach einer Anlaufzeit auf die effektive Kapazität aus. Nach dem neuen Asylgesetz, das Anfang Oktober in Kraft trat, dürfen materielle Entscheide nur noch von jeweils drei Richtern (statt von einem einzelnen) gefällt werden. Üblich ist dabei das Zirkulationsverfahren (1014 Fälle), relativ selten sind Beratungen (35 Fälle). Von den Beschwerden wurden sieben Prozent gutgeheissen.

Erschwerte Wegweisung in Drittstaaten

Von den drei Grundsatzurteilen, die von der Gesamtkommission gefällt wurden, hat besonders jenes eine erhebliche konkrete Auswirkung, das die Rückweisung in einen Drittstaat während des Verfahrens von einem mindestens 20tägigen Aufenthalt im Transitland abhängig macht, wie er nach Erfahrung des BFF praktisch kaum je nachweisbar ist. Einer der anderen Entscheide ist von besonderem Interesse, weil er einen Iraker betrifft und im letzten Jahr immerhin 1658 Personen aus Saddam Husseins Staat um Asyl ersuchten. Laut ARK-Urteil schafft das Einreichen eines Asylbegehrens im Ausland die Gefahr, dass die betreffende Person, wenn dies den irakischen Behörden bekannt wird, als Regimegegner gilt und verfolgt wird. Wenn weitere Umstände wie die illegale Ausreise dazukämen, dürfe die Wegweisung nicht vollzogen werden. Weitere Themen der Kommission waren die Zumutbarkeit der Rückkehr in bestimmte Länder, die Rechte minderjähriger Asylsuchender und die Anwendung der mit Dringlichkeitsrecht eingeführten neuen Möglichkeiten, auf ein Gesuch nicht einzutreten.

Abweichung vom Gesetz?

Die ARK hat, falls nötig, die Rechtsstaatlichkeit im Asylverfahren zu gewährleisten. Dass sie der Verwaltung zugunsten der Gesuchsteller Schranken setzt, scheint unter dem Gesichtspunkt einer möglichst reibungslosen Abwicklung der vielen Verfahren unbequem. Entscheidend ist aber, ob sie korrekt handelt oder nicht. Der Zürcher SVP-Nationalrat Hans Fehr hat wie bereits vor einem Jahr in einem parlamentarischen Vorstoss den Vorwurf erhoben, viele ARK-Entscheide liefen «dem Willen des Gesetzgebers und des Volkes zuwider». Unter anderem führt er als Beleg an, die Rekurskommission habe den Begriff der Verfolgung über den gesetzlichen Rahmen ausgedehnt. In Wirklichkeit bestätigte sie einen Nichteintretensentscheid, war aber auch auf die Frage der Zulässigkeit der Wegweisung eingegangen. Das Gesetz erlaubte in jenem Fall (der Gesuchsteller hatte keine Papiere abgegeben) das Nichteintreten nur, wenn keine oder nur offensichtlich haltlose Hinweise auf Verfolgung vorlagen. Das Verbot der Rückschiebung Verfolgter ist in diesem Zusammenhang in der Botschaft zur Gesetzesrevision ausdrücklich festgehalten.

Sodann schreibt Fehr, die ARK mache die Schweiz zum «Zufluchtsort für Kriegsverbrecher», namentlich für ranghohe Vertreter der einstigen kommunistischen Regime in Afghanistan. Zu finden ist ein Fall, in dem die ARK einem unter der Taliban-Herrschaft unbestrittenermassen gefährdeten früheren Regierungsmitglied das Asyl zuerkannte, weil der Mann in seiner Stellung keinen «mitbestimmenden Einfluss» auf die menschenrechtsverletzende Politik des Regimes ausüben konnte. Ein drittes Beispiel: Nach Fehr versteht die ARK auch «schwierige Lebensverhältnisse» als «konkrete Gefährdung», was einer Auflösung des politischen Asylbegriffs gleichkäme. Im beanstandeten Entscheid ging es um die landesinterne Fluchtalternative eines Kurden im Westen der Türkei. Die Kommission hielt in jenem individuellen Fall angesichts der gesamten Umstände die Wegweisung nicht für zumutbar. Bei solchen Entscheiden humanitäre Überlegungen einzubeziehen entspricht grundsätzlich dem erklärten Willen des Bundesrats. - Weitere Vorwürfe von Fehr sind mangels Quellenangabe nicht überprüfbar, und die ARK verweist auf den Bundesrat, der auf die Motion zu antworten hat. Die Annahme liegt indessen nahe, dass der SVP- Parlamentarier mit «Ordnungsvorschriften» des Bundesrats oder einer Neukonzeption des Rekurswesens einfach eine restriktivere Praxis verlangt, die wohl vom Gesetz abweichen müsste.