Die Welt 28.4.2000

Schweres Erdbeben in Istanbul bis zum Jahr 2030 sehr wahrscheinlich

Von Dagmar Röhrlich

Istanbul - Am 17. August 1999 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,4 die Region um Izmit am Ostende des Marmara-Meers. Drei Monate später traf ein Beben der Stärke 7,1 Düzce, eine Stadt etwa 100 Kilometer weiter östlich. Mehr als 18 000 Menschen wurden getötet, 15 000 Gebäude stürzten ein. Seitdem fürchten die Seismologen, dass es als nächstes die nahe Metropole Istanbul trifft.

Amerikanische, türkische und japanische Forscher haben deshalb versucht, das Risiko für die Millionenstadt abzuschätzen. Danach liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Istanbul in den kommenden 30 Jahren von einem Beben stärker als Magnitude 7 schwer getroffen wird, bei 62 Prozent, berichten sie in der Fachzeitschrift "Science". Für die nächsten 20 Jahre liegt sie bei 50 Prozent, für das kommende Jahr immerhin noch bei vier Prozent. "Damit ist die Gefahr für Istanbul durchaus vergleichbar mit der für die Region um San Francisco", erklärt Tom Parsons vom US Geological Survey.

Die Forscher haben für diese Abschätzungen eine Methode angewandt, die noch in der Erprobung ist. Sie konzentrierten sich dabei auf das so genannte Stress- Triggern. Wann immer an einem Punkt der Störung ein Erdbeben ausgelöst wird, dann kann das an einem anderen Punkt dieser Störung die Spannungen erhöhen und dadurch ein neues Beben auslösen. Genau das soll der Zusammenhang zwischen den beiden Beben von Izmit und Düzce gewesen sein.

Nun haben die Forscher einen Katalog der Beben aufgestellt, die sich in den vergangenen 1500 Jahren entlang der Äste der nordanatolischen Verwerfung ereignet haben. Aus allen diesen Daten rekonstruierten sie das Verhalten der Störungen in der Marmara-Region. Danach sind die Beben von Izmit und Düzce nur die jüngsten in einer Kette, die sich seit 1939 an der nordanatolischen Störung ereignet haben. Nach den jüngsten Beben könnten sich sowohl an der zentralen Marmara-Störung als auch an der Verwerfung von Büyükada vor der kleinasiatischen Seite von Istanbul große Spannungen aufgebaut haben. "Mindestens diese beiden Verwerfungen könnten nach so langen Zeiträumen sehr gut in der letzten Phase eines Bebenzyklus sein", so Parsons. Und damit wäre Istanbul massiv bedroht.