Berliner Zeitung 28.4.2000

"Wir müssen verbindliche Sprachkurse einführen"

Cem Özdemir erwartet von Zuwanderern und ihren Familien stärkere Integrationsbemühungen

Nach Auffassung des innenpolitischen Sprechers der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, müssen Zuwanderer auf Deutschland vorbereitet werden.

Wo liegt für Sie das Hauptproblem bei der Einwanderung?

Nach meinen Erfahrungen reicht die bisherige Integration von Ausländern nicht aus. Vor allem werden die Sprachkenntnisse schlechter. Wenn die Menschen die Sprache nicht freiwillig lernen, müssen wir verbindliche Sprachkurse nach holländischem Vorbild einführen. Alle, die zukünftig nach Deutschland kommen, sollen vom ersten Tag an einen solchen Kurs machen. Auch Asylberechtigte sollen an den Kursen teilnehmen. Die Teilnahme sollte mit dem Zugang zum Arbeitsmarkt verbunden werden. Wer den Kurs nicht belegt, bekommt keinen Arbeitsplatz. Aber wer ihn belegt, muss arbeiten dürfen.

Sie wollen Arbeitsverbote aufheben?

Ja. Die Aufhebung der Arbeitserlaubnispflicht, verbunden mit einem Sprach- und Integrationskurs halte ich für richtig. Damit haben wir eine runde Lösung und sind dem Argument aus der Bevölkerung, Ausländer wollten hier nicht arbeiten, entgegengetreten. Ich gehe noch weiter. Der Zugewanderte muss auf Deutschland vorbereitet werden. In den Kursen muss er etwas über die Werte dieser Gesellschaft lernen. Das ist Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben. Das alles können wir noch in dieser Legislaturperiode gesetzlich regeln.

Sollen auch die Familien die Kurse erhalten?

Ja sicher. Das ist der entscheidende Punkt. Bei der Familienzusammenführung haben wir derzeit mit das größte Problem. Die Ehefrau wird durch das Arbeitsverbot und ohne verbindlichen Sprachkurs praktisch ans Hause gefesselt. Und wie soll ein Kind, in dessem Zuhause beispielsweise nur türkisches Fernsehen läuft und dessen Umfeld rein türkisch ist, richtig Deutsch lernen? Also müssen wir sehr früh intervenieren. Entscheidend ist, dass wir die Eltern einbeziehen.

Erwägen Sie auch, bei einer Ablehnung der Kurse die Sozialhilfe zu kürzen?

Wichtig ist für mich das Ziel, die Deutschkenntnisse zu verbessern. Die Hoffnung der vergangenen Jahre, dass sich dieses Problem von selbst löst, hat sich nicht erfüllt.

Müssen sich die Grünen von früheren Vorstellungen lösen?

Wir müssen akzeptieren, dass wir bei bestimmten Dingen nachhelfen müssen, wenn wir Gettobildung und Parallelgesellschaften verhindern wollen. Wir müssen dringend eine Diskussion über die Spielregeln des Zusammenlebens führen. Da müssen auch die Grünen an manchen Stellen über ihren Schatten springen. Mein Wunsch an meine Partei wäre, dass wir die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Etwa die einer deutschen Mutter, deren Tochter in der Schule mit Kindern sitzt, die nicht gut Deutsch können. Diese Mutter dürfen wir nicht als Rassistin denunzieren.

Haben die Grünen früher die Probleme nicht richtig erkannt?

Ich rede mir den Mund seit sechs Jahren fusselig. Ich habe immer gesagt: Integration ist keine Einbahnstraße. Einwanderer haben Rechte, aber sie haben auch Pflichten.

Welche Pflichten?

Die Pflicht ist, dass ich mich in die Gesellschaftsordnung des Landes, in dem ich lebe, eingliedere; dass ich die Werte der Gesellschaft und ihre Verfassung akzeptiere. Diese Werte sind übrigens keine deutschen. Es sind westliche Werte, die auf der UN-Menschenrechtscharta basieren. Das bedeutet konkret, dass ein Einwanderer beispielsweise die Schulpflicht anerkennen muss, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, und auch, dass Sexualkunde Teil unserer Schulausbildung ist, dass Mädchen ein Recht haben, etwas über ihre Sexualität zu erfahren.

Sie erwarten also, dass Einwanderer ihre kulturellen Gegebenheiten, wie das patriarchalische System, aufgeben?

Die Türkei hat kürzlich das Zivilrecht dahingehend geändert, dass der Mann nicht mehr Oberhaupt der Familie ist. Das kam einige Jahre später als in Deutschland. Aber diese Werte setzen sich weltweit zunehmend durch. Wer in Deutschland leben möchte, der muss diese Werte teilen. Auch ich möchte als Mensch türkischer Herkunft, dass diese Werte nicht in Frage gestellt werden.

Und die Kosten für die Sprach- und Integrationskurse?

Zurzeit zahlen wir das Zigfache für die Resozialisierung gescheiterter Jugendlicher. Wir sollten das Geld, das wir für die Sprachförderung unterschiedlicher Gruppen ausgeben, etwa für Aussiedler, zusammenwerfen und es auf alle Anspruchsberechtigten verteilen. Dann können wir die Kosten ermitteln und sie gerecht zwischen Bund und Ländern aufteilen. Wir brauchen eine Bildungsoffensive. Das ist die Schlüsselfrage für die Migration. Je besser die Menschen qualifiziert sind, umso besser werden wir die Frage der Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen.

Wieso ist in Deutschland keine sachliche Debatte möglich?

In Deutschland kann man damit Wahlen gewinnen. Die CDU vergiftet das Klima und verhindert, dass die Regierung eine moderne Einwanderungspolitik machen kann. Meine Lektion aus der CDU-Kampagne gegen die Doppelte Staatsbürgerschaft ist, dass wir nicht überhastet an ein Einwanderungsgesetz herangehen. Wir müssen vorher eine gesellschaftliche Debatte führen.

Die Union will das Asylrecht einschränken. Was ist ihre Position?

Das ist mit uns definitiv nicht zu machen, nicht mit den Grünen, und nicht mit der gesamten Koalition. Wer Artikel 16 des Grundgesetzes angreift, der will den Individualanspruch der Genfer Flüchtlingskonvention aufgeben. Die Union will damit die europäische Ausrichtung des Asylrechts in Frage stellen und in ein Gnadenrecht verwandeln. Ich habe das Gefühl, in der Union braucht man ein Alibi, um den Wählern im national-konservativen Spektrum zu erklären, warum man nun doch für ein Einwanderungsgesetz ist.

Wann rechnen Sie mit Ergebnissen in der Arbeitsgruppe, die die Koalition eingesetzt hat?

Man muss realistisch sagen, dass vor der NRW-Landtagswahl nichts mehr läuft. Erst muss Rüttgers in seine Schranken verwiesen werden. Dann können wir zur Sacharbeit zurückkehren. Dann hören auch hoffentlich solche blödsinnigen Sprüche wie "Kinder statt Inder" auf.

Das Gespräch führte Sigrid Averesch.

"Wir müssen akzeptieren, dass wir bei bestimmten Dingen nachhelfen müssen, wenn wir Gettobildung und Parallelgesellschaften verhindern wollen."