Der Bund , 27.04.00 CH

Entscheid fürs Gewissen

TÜRKEI / Ahmet Necdet Sezer, der Präsident des Verfassungsgerichts, soll Staatschef werden. Mit diesem Antrag haben die Parlamentsspitzen den Konflikt darüber, welche politische Kraft den Nachfolger Süleyman Demirels stellen soll, salomonisch gelöst.

o BIRGIT CERHA, NIKOSIA

Selten findet die politische Welt der Türkei zu solcher Einmütigkeit. Kommentatoren bemühten Begriffe wie «historisch» oder «nahezu einzigartig in der Geschichte der türkischen Republik». Tatsächlich fanden die Parteien des Landes nicht oft zuvor zu einem Konsens, wie er das Ende einer neunstündigen Marathonsitzung ihrer Chefs in der Nacht auf Mittwoch auszeichnete. Alle fünf im Parlament vertretenen Gruppierungen gaben ihre Zustimmung zur Kandidatur Ahmet Necdet Sezers für das Amt des Staatspräsidenten.

Der derzeitige Chef des Verfassungsgerichtes hat damit grosse Chancen, heute bereits im ersten Wahlgang vom Parlament ins höchste Staatsamt gewählt zu werden. Der Türkei bleibt so die schwere politische Krise erspart, die viele befürchtet hatten, nachdem Ministerpräsident Ecevit mit seinem Versuch gescheitert war, die Amtsperiode des scheidenden 76-jährigen Präsidenten Demirel durch Verfassungsreform um weitere fünf Jahre zu verlängern.

«Wind der Veränderung»

Die Kommentatoren schwelgen in der Freude über die neugefundene politische Verantwortlichkeit ihrer Parteiführer. Sie erinnern an die schwere Krise des Jahres 1980, als die Unfähigkeit der Abgeordneten, einen neuen Präsidenten zu wählen, den Offizieren den letzten Anstoss zu ihrem Septemberputsch gab. «Die Dinge haben sich dramatisch zum Besseren gewandelt», frohlocken die «Turkish Daily News»; die Politiker hätten gut auf den «Wind der Veränderung» reagiert. Das Gerangel um die Präsidentschaft hielt seit vielen Wochen das Land in Atem. Noch am Dienstag waren sich die Parteiführer heftig in die Haare geraten, weil man sich auf keinen gemeinsamen Kandidaten aus den Reihen der Abgeordneten einigen konnte. Doch der Widerstreit legte sich, als Ecevit den Namen des Aussenseiters Sezer präsentierte, eines überzeugten Laizisten und Demokraten.

Integerer Demokrat

Sezer repräsentiert eine neue Generation von Türken, die das Land zu Reformen und in die EU führen wollen. Der 59-jährige Richter hat sich als hochintegerer Mann Ansehen verschafft. Sein makelloser Leumund in finanziellen Fragen hat besonderes Gewicht in einem Land, in dem das Krebsgeschwür der Korruption bis hinauf in die höchsten Staatskreise wuchert. Sezer wurde 1988 ins Verfassungsgericht berufen und zehn Jahre später zu dessen Vorsitzenden gewählt. Er hat es meistens vermieden, durch Stellungnahmen zu kontroversen Themen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erwecken. Dennoch fühlte er sich letztes Jahr zu einer scharfen juristischen Erklärung über die Verfassung und den Stand der Demokratie im Lande gedrängt, die einiges Aufsehen erregte. Er kritisisierte das Grundgesetz - ein Erbe der Militärdiktatur von 1980 bis 1983 -, das grundlegende Freiheiten einschränke und die Rechte des Staates über jene des Individuums stelle.

Gegen Vollmachten

Sezer kritisierte Gesetze, die insbesondere Kurden und Islamisten geknebelt und in beträchtlichen Zahlen ins Gefängnis gebracht haben. Zudem, so betonte er auch in diesen Tagen erneut, räume die Verfassung dem Präsidenten Rechte ein, die weit über jene in einer parlamentarischen Demokratie hinausgingen: «In einem demokratischen Staat ist es nicht akzeptabel, dass der Präsident Macht mit dem Parlament teilt, das den Willen der Nation repräsentiert und wichtige Entscheidungen trifft.» Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Özal und Demirel ist Sezer nicht mit dem Ränkespiel der türkischen Politik vertraut. Auch fehlt es ihm an aussenpolitischer Erfahrung. Özal wie Demirel zogen hinter den Kulissen eifrig die Fäden und spielten eine wichtige Rolle in den Beziehungen insbesondere zu den Ländern der Region. Doch in einer Phase des äusserst schwierigen und mit Sprengstoff beladenen Anpassungsprozesses an die demokratischen Kriterien der EU ist an der Spitze des Staates ein Mann vonnöten, der sich den Menschenrechten und Grundfreiheiten zutiefst verpflichtet fühlt, wie es der hoch erfahrene Jurist tut. Ob Sezer, wenn er diesen Grundsätzen treu bleibt, mit den allmächtigen Militärs ein ebenso gutes Verhältnis aufzubauen vermag wie sein flexibler Vorgänger Demirel, bleibt dahingestellt.