Frankfurter Rundschau 27.04.00

Nüchterner Blick über den deutschen Tellerrand ohne falsche Arroganz

Sozialarbeiter informieren sich in der Türkei über psychosoziale Versorgung von Jugendlichen / Projekt für schwierige Migrantenkinder geplant

Von Canan Topçu

Wir sind eine Gruppe von Sozialarbeitern, sind bei der Stadt Frankfurt und freien Trägern angestellt. In unserer täglichen Arbeit beschäftigen wir uns oft mit türkischen Jugendlichen und ihren Familien und sind daher an der psychosozialen Betreuung von Jugendlichen in der Türkei interessiert." Ein Satz, den Harry Huber während des Türkei-Aufenthalts oft aufsagen musste.

Harry Huber, in der Abteilung Grundsatzangelegenheiten beim Jugendamt tätig, hat den Fachkräfteaustausch organisiert und darüber in einem Rundschreiben Anfang März Mitarbeiter von Stadt und freien Trägern informiert. Ziel der zwölftägigen Reise nach Ankara und Istanbul war es, sich Einblicke in die dortige Jugendsozialarbeit zu verschaffen. Daher rührte wohl auch die Auwahl der Termine: Justizministerium, Kinderschutzbund, Fakultät für Sozialarbeit, Generaldirektion für Jugend und Sport, Kindergericht, Besserungsanstalt - das waren einige der Stationen in den ersten drei Tagen in Ankara.

In Istanbul standen unter anderem der Besuch eines Straßenkinderheims, Gespräche mit der Stiftung zur Resozialisierung straffälliger Jugendlicher und dem Istanbuler Polizeipräsidium über Maßnahmen für Straßenkindern sowie ein Termin in der gerichtsmedizinischen Abteilung an der Universität an. Was sich hinter der langen Terminliste verbergen würde - das haben die Teilnehmer vor Antritt der Reise wohl kaum erahnen können. Zehn Fachkräfte meldeten sich zu der Fahrt an, um sich vor Ort ein genaues Bild über die soziale Situation zu machen. Neugierig auf die Begegnungen und Informationen flogen Ende März Sozialarbeiter, Jugendgerichtshelfer und Psychologen, die eben häufig mit auffällig oder straffällig gewordenen türkischen Jugendlichen zu tun haben, zunächst nach Ankara. Und weil es sich nicht nur um einen Fachkräfteaustausch, sondern auch um erste Vorgespräche für ein Projekt handelte, das das Jugendamt und der Verein für Jugendwohnmodelle in Zusammenarbeit mit einer türkischen Jugendstiftung plant, waren zudem Termine mit dem Kooperationspartner - der Stiftung für die Reautonomie von Jugendlichen - vereinbart.

Es herrscht eine ganz andere Diskussionskultur, das war die erste Erfahrung, die die Gruppe schon nach den ersten Begegnungen mit türkischen Institutionen machte. Und dass die türkischen Verhältnisse überhaupt nicht mit den hiesigen zu vergleichen sind, wurde den Teilnehmern ebenfalls sehr schnell bewusst.

Bereits bei der Vorstellungsrunde begannen die ersten Schwierigkeiten. Heinke Vogel, Günay Özyilmaz und Peter Groß stellten sich als Jugendgerichtshelfer vor. Und als Mitarbeiter von Sozialrathäusern führten Eveline Ziegler und Andreas Elm aus, worin ihre Tätigkeit besteht. Der als Dolmetscher mitgereiste Ali Aydin hatte allerhand Probleme beim Übersetzen. Denn Jugendgerichtshelfer ist ein Beruf, den es in der Türkei gar nicht gibt. Aydin umschrieb immer wieder die Arbeitsfelder der Teilnehmer.

Viele der türkischen Gesprächspartner, wie beispielsweise Bülent Ilik von der staatlichen Kinderschutzorganisation, den die Gruppe am ersten Tag traf, schauten irritiert in die Runde. "Angebote und Institutionen dieser Art gibt es bei uns nicht", gestand Ilik. Es gebe sehr viele Lücken in der Kinder- und Jugendarbeit, nicht nur im Bereich der Betreuung von jugendlichen Straftätern, auch bei den Präventivmaßnahmen bestünden Mängel.

Einen Einblick in die Arbeit der Kindergerichte, in der die Verfahren der Zwölf- bis 15-Jährigen verhandelt werden, verschaffte sich die Gruppe in Ankara und auch in Istanbul. Eigentlich sind die Verhandlungen nicht öffentlich. Ermöglicht wurde die Teilnahme erst durch Sondergenehmigungen des türkischen Justizministeriums. Der Ablauf der Gerichtsverhandlungen verblüffte die deutschen Besucher: Mal erschien der Anwalt nicht, so dass der Termin vertagt werden musste, mal war das angeklagte Kind nicht anwesend. Für Entsetzen sorgte die Atmosphäre im Saal: Die Richter sitzen auf einem Podest, Protokolle werden auf einer manuellen, laut knatternden Schreibmaschine erstellt. Allgemeines Erstaunen auch darüber, dass in der Türkei Kinder schon vom zwölften Lebensjahr an strafmündig sind. Besondere Verwunderung verursachte bei den Jugendgerichtshelfern die Äußerung einer Gerichtspsychologin, dass die Richter lediglich für drei Prozent der Straffälligen psychologische Gutachten anfordern.

Informationen über das Jugendstrafgesetz und die Betreuung von Delinquenten im Kinder- und Jugendalter erteilte das Justizministerium. Bei dem zwei Stunden dauernden Treffen - hier erlebten die Besucher die Gastfreundlichkeit - wurde stets aufmerksam Tee gereicht, aber nicht immer auf die Fragen geantwortet. So verließ die Gruppe eher verwundert als aufgeklärt die Amtstube des für Jugend zuständigen Ministerialrats.

Nachbetrachtungen über die Ereignisse der einzelnen Treffen wurden zwar schon während der Fahrten von einem Termin zum nächsten angestellt. Erst abends allerdings, wenn die Gruppe zusammen saß, wurden die persönlichen Eindrücke in ausführlichen Gesprächen ausgetauscht. "Der Termin beim Justizministerium war für mich nicht wegen der Sachinformationen wichtig", befand Klaus Fischer. Der Leiter eines Frankfurter Übergangswohnheims stellte fest, dass so immerhin die Möglichkeit bestanden habe, ein türkisches Ministerium mal von innen zu sehen. Erstaunen herrschte in der Reisegruppe darüber, dass auf den Tischen der besuchten Büros kaum Computer, dafür aber oft jede Menge Nippes zu finden ist. "Da ist doch kaum Platz zum Arbeiten", so die Beobachtung der Psychologin Roswitha Mittenzwei.

Im Mittelpunkt des Aufenthalts in Istanbul stand die Situation von Straßenkindern und deren Betreuung. Wie sehr die Kinder im Stadtbild präsent sind, bemerkte die Gruppe schon beim ersten Bummel durch die Istiklal Caddesi, eine der großen Einkaufsmeilen am Bosporus: Alle paar Meter verwahrloste Kinder, die Taschentücher oder Kaugummi verkaufen oder am Straßenrand rumlungern. Sprachlos machte der persönliche Bericht eines ehemaligen Straßenkindes: Als 13-Jähriger von zuhause abgehauen, lebte Zeki sieben Jahre auf der Straße, war Klebstoff-Schnüffler. Inzwischen ist er "clean", macht Streetwork im Istanbuler Stadtteil Taksim und spricht verwahrloste Jugendliche an.

Dass sich vor allem private Stiftungen und Vereine um Straßenkinder und problematische Jugendliche kümmern, berichtete die türkische Reiseleiterin Emrah Kirimsoy. Die Studentin, die die Gruppe begleitete, gab sich viel Mühe, die Aktivitäten der regierungsunabhängigen Organisationen vorzustellen. Als Mitarbeiterin der "Stiftung für die Reautonomie von Jugendlichen", die ihren Hauptsitz in Istanbul hat, führte sie durch Einrichtungen, in denen Straßenkinder versorgt werden.

Es gibt in der Türkei erhebliche Defizite in der psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen - zumindest im Vergleich mit der Situation in Deutschland: Mit diesen Eindrücken verließ die Gruppe das Land. "Ich will aber nicht alles verteufeln", fasste Klaus Fischer seine Erlebnisse zusammen. Es nütze nichts, mit einem arroganten Blick von oben herab "abzuqualifizieren, was nicht wie bei uns läuft". Dass die Türkei ein armes Land sei und nicht über finanzielle Mittel und qualifizierte Fachkräfte verfüge, um ein funktionierendes soziales Netz aufzubauen, darauf hatte Gerhild Pinkvoss-Müller, Sozialreferentin bei der deutschen Botschaft in Ankara, die Gruppe schon am ersten Tag des Aufenthaltes hingewiesen.