Berliner Zeitung 26.04.00

Widersprüchliche Kurdenpolitik

Ankara schwankt zwischen politischen Versprechen und militärischem Handeln

Julie v. d. Bussche

Vor zwei Wochen einigten sich die EU-Außenminister mit ihrem türkischen Amtskollegen Ismail Cem über die Aufnahme von "Vorbeitrittsverhandlungen". Die EU hatte der Türkei 1999 den Status eines möglichen Aufnahmekandidaten zugebilligt. Eine der schwierigsten Hürden bis zur Aufnahme von offiziellen Beitrittsverhandlungen ist die Frage der Menschenrechte in der Türkei. Insbesondere die Kurdenpolitik der türkischen Regierung wird in Brüssel aufmerksam beobachtet. So wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Fortschritte und Probleme in diesem Bereich bewerten soll.

Die Einschätzung der derzeitigen Situation dürfte hingegen den EU-Beobachtern nicht leicht fallen. In den letzten Monaten hat sich die Politik Ankaras gegenüber den Kurden als äußerst ambivalent erwiesen. Zweifelsohne wurden in der Türkei in jüngster Zeit zahlreiche Anstrengungen unternommen, um Missstände im Bereich der Menschenrechte und vor allem im Umgang mit der kurdischen Bevölkerung zu beheben. Dabei hat sich Premier Ecevit nicht gescheut, auf Konfrontationskurs zu seinem Koalitionspartner, der in den letzten Parlamentswahlen im April erstarkten rechtsnationalistischen Partei (MHP) und dem Militär, zu gehen.

Der Fall Öcalan

So wurde im Laufe des Prozesses gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan das zuständige Gericht per Gesetz dem Zugriff des Militärs entzogen. Im Januar 2000 beschloss die Regierung sogar, die Vollstreckung des nunmehr gefällten Todesurteils gegen Öcalan auszusetzen und ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abzuwarten. Auch wurde erstmals ermöglicht, dass Angehörige der Staatsverwaltung vor Gericht gestellt werden können.

Diese Maßnahmen könnten ein Signal dafür sein, dass die Türkei ihren Justizapparat einer Reform unterziehen und dabei die in der EU geltenden Prinzipien als Vorbild nehmen will. Darüber hinaus verabschiedete das türkische Parlament im August 1999 ein Gesetz, welches Kämpfern der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) die Möglichkeit einer Strafmilderung anbietet. Bereits einige Monate zuvor legte Premier Ecevit ein Entwicklungsprogramm für das Siedlungsgebiet der Kurden vor. Im Mai endete entgegen allen Erwartungen ein Prozess gegen einen Menschenrechtsverein aus der Kurdenstadt Diyarbakir mit einem Freispruch.

Trotz dieser positiven Zeichen bleiben die grundsätzlichen Probleme zwischen türkischem Staat und kurdischer Minderheit bestehen. Die in der Theorie fortschrittlich anmutenden Maßnahmen haben in der Praxis oft keinerlei Wirkung. So kann die von Ankara angebotene Strafmilderung für PKK-Kämpfer von kaum einem Angehörigen der Kurdenpartei wirklich wahrgenommen werden. Das "Reuegesetz" findet nämlich nur dann Anwendung, wenn das betroffene PKK-Mitglied niemals auch nur die geringste Verbindung zu den Taten der Terrororganisation hatte. Da aber bereits der Besitz einer PKK-Broschüre durch die türkischen Gerichte als schwere separatistische Tat gewertet wird, ist es kaum möglich, als PKK-Mitglied von dem Gesetz zu profitieren. Zudem wurde jüngst im Parlament beschlossen, dass die kurdische Sprache allenfalls als türkischer Dialekt anzusehen ist, was die Nichtachtung einer eigenen kurdischen Kultur deutlich macht.

Die Festnahmen drei kurdischer Bürgermeister, die nur auf Druck der europäischen Nachbarn wieder freigelassen wurden, sowie die Inhaftierung des Menschenrechtlers Akin Birdal zeigen, dass die türkische Justiz von einer ordentlichen rechtsstaatlichen Behandlung der Kurden noch weit entfernt ist.

Einmarsch in irakisches Gebiet

Seit Anfang April geht das türkische Militär sogar wieder gewaltsam gegen die PKK vor. Türkische Militärflugzeuge bombardierten im nordirakischen Grenzgebiet Stellungen kurdischer Kämpfer. Truppen der türkischen Armee rückten mit Artillerie und Panzern bis zu 10 Kilometer weit auf irakisches Territorium vor. Diese Angriffe erfolgten, obwohl sich die kurdischen Kämpfer seit ihrer offiziellen Lossagung von gewalttätigen Aktionen im Februar friedlich verhalten. Das musste sogar die türkische Militärführung einräumen. Diese sieht aber ein "Ende des Terrorismus" erst dann gegeben, wenn die PKK ihre Waffen vollständig abgegeben hat.

Die PKK wertet die Angriffe des Militärs als Versuch, die Kurden erneut in einen bewaffneten Konflikt zu verwickeln. Würde die PKK zurückschlagen, dann wäre die Handhabe der Militärs gegen die Organisation wieder weitaus größer. Auch der Beschluss über die Aussetzung der Hinrichtung Öcalans wäre unwirksam. Premier Ecevit hatte auf Druck seines rechten Koalitionspartners die Entscheidung davon abhängig gemacht, dass die PKK auf gewalttätige Aktionen verzichtet.