taz 26.4.2000

Angebot an Europa

Die großen Parteien in der Türkei haben sich geeinigt: Ahmet Necdet Sezer soll morgen zum neuen Präsidenten gewählt werden

Ahmet Necdet Sezer ist vor allem eins: eine Überraschung. Bis die drei Parteichefs der türkischen Regierungskoalition ihn Montagnacht zum Präsidentschaftskandidaten kürten, sprach kaum jemand von ihm. Den meisten Türken ist der Vorsitzende des Verfassungsgerichts weitgehend unbekannt. Doch jetzt hat er die besten Chancen, ab Mitte Mai Präsident des Landes zu sein. Seit gestern die beiden Oppositionsparteien, die islamistische Fazilet und die Partei des Rechten Weges erklärten, auch sie würden Sezer unterstützen, hat er gute Chancen, bereits morgen im ersten Wahlgang gewählt zu werden.

Damit hätte die drohende Krise der Regierung Ecevit doch noch ein überraschend schnelles Ende gefunden. Sezer wäre in der türkischen Geschichte der erste Vertreter des Rechts auf dem Präsidentensessel, den in der Vergangenheit vorzugsweise Ex-Generäle oder altgediente Politiker besetzten. Im Gegensatz zu dem derzeitigen Chef des Revisionsgerichts, Sami Selcuk, der sich mehrfach spektakulär in die politische Auseinandersetzung eingebracht hat, ist Necdet Sezer ein eher trockener, zurückhaltender Typ. Allerdings hat auch er im letzten Herbst in seiner Rede zur Eröffnung des neuen Gerichtsjahres (immer nach den Sommerferien) deutlich gemacht, dass er die türkische Demokratie für reformbedürftig hält. Insbesondere die Einschränkung der Meinungsfreiheit gehört nach Auffassung Sezers nach internationalen Standards neu geregelt. Dies ist auch der Grund, warum die Islamisten seine Kandidatur unterstützen, obwohl Sezer ein ausgewiesener Laizist ist.

Deshalb geht Ecevit wohl davon aus, dass Sezer auch für die Militärs akzeptabel ist. Schließlich hatte Generalstabschefs Kivrikoglu noch vor einer Woche erklärt, die Streitkräfte erwarten, dass ein Mann zum Präsidenten (und damit obersten Befehlshaber der Armee) gewählt wird, der in der kemalistischen Tradition steht und im Gegensatz zu Mesut Yilmaz in keinerlei Korruptionsaffären verstrickt ist. Ahmet Necdat Sezer erfüllt beide Kriterien und ist dennoch kein Anhänger der Militärs: Er könnte noch für manche Überraschung gut sein. Das machte er bereits gestern, während einer Rede zum Jahrestag der Verfassung, deutlich: Er forderte, die von den Militärs 1982 neu geschriebene Verfassung zu demokratisieren, interne Entscheidungen des Militärs ebenfalls der zivilen Gerichtsbarkeit zu unterstellen und im Bereich des Ausnahmezustandes, im überwiegend kurdisch besiedelten Südosten des Landes, keine rechtsfreien Räume mehr zu dulden. Necdat Sezer könnte zum türkischen Angebot an die EU werden. JÜRGEN GOTTSCHLICH