Der Tagesspiegel 26. April 2000

Präsidentenwahl in der Türkei

Unerschrockener Kämpfer für die Meinungsfreiheit - Kandidat Sezer tritt für demokratische Werte ein

Susanne Güsten

Ein großer Redner ist Ahmet Necdet Sezer nicht. Und was der 58-jährige Jurist am Dienstag vor der politischen Elite des Landes zu sagen hatte, grenzt in der Türkei an Verrat. Nuschelnd, stockend und über sein Manuskript gebeugt, kritisierte der Präsident des Verfassungsgerichts die von den Militärs diktierte Verfassung als undemokratisch. Sezer kommt aber nicht in Polizeihaft. Er soll nach dem Willen von Regierungskoalition und Opposition im Mai Nachfolger von Präsident Süleyman Demirel werden.

Sezer taucht nicht zum ersten Mal als Überraschungskandidat in einem hohen Amt auf. Bei seiner Wahl zum Verfassungsgerichtspräsidenten brach das oberste Gericht 1998 erstmals mit der Tradition, stets den Vizevorsitzenden in den Chefsessel zu befördern, und machte den Beisitzer Sezer zum jüngsten Chef der Behörde in der türkischen Rechtsgeschichte. Zuvor hatte der Jurist aus dem westtürkischen Afyon eine unauffällige Karriere durchlaufen, die ihn nach Studium und Wehrdienst an der Heeresakademie erst an Provinzgerichte und dann an den Berufungsgerichtshof führte. An das Verfassungsgericht berief ihn 1988 der damalige Staatspräsident Kenan Evren, Anführer des Staatsstreiches von 1982.

Als Vorsitzender des Verfassungsgerichts machte Sezer sich einen Namen als Verfechter demokratischer Werte. Bekannt wurde er mit einer gefeierten Grundsatzrede, in der er durchgreifende Reformen für einen echten Rechtsstaat verlangte. Dabei griff Sezer vor allem die Beschneidung der Meinungsfreiheit an. Alle Äußerungen, mit denen nicht unmittelbar zu strafbaren Handlungen aufgerufen werde, müssten straffrei sein, forderte Sezer - eine in der Türkei keineswegs selbstverständliche Auffassung.

Mit seinem Einsatz für die Meinungsfreiheit findet er nicht nur im liberalen Lager der Türkei Unterstützung, sondern auch bei den von Denk- und Redeverboten besonders betroffenen Islamisten - und das, obwohl er 1998 mit für das Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei stimmte. Die Sympathie pro-kurdischer Kreise ist ihm gewiss, seit er sich für die Streichung eines Verfassungsartikels aussprach, der den Gebrauch "verbotener Sprachen" untersagt. Und Sezer hat ein positives Leitbild für die Verfassungsreformen: die im deutschen Grundgesetz verankerte Unantastbarkeit der Grundrechte.