Die Welt 25.4.2000

Gesucht: ein Advokat der Zweifel

Leitartikel

Von Thomas Schmid

Ob es ihm bewusst war oder nicht: Mit seiner Green-Card-Bemerkung ist Gerhard Schröder ein folgenreicher Schachzug gelungen. Wohl wird an allen gelehrten Enden der Republik seit Jahrzehnten über die Frage debattiert, wie denn mit der Frage umzugehen sei, dass es in Deutschland offenkundig Einwanderung gibt. Aber bis zu Schröders Initiative ist niemandem gelungen, das Ganze aus dem Himmel der Visionen oder der Hölle der Ängste zu holen und auf den Boden des eigennützigen nationalen Räsonnements zu stellen.

Hätten die Gelehrten es getan (sie haben es getan), niemand hätte ihnen zugehört. Hätten es Helmut Kohl oder Wolfgang Schäuble getan, man hätte ihnen gefühlskalten nationalen Egoismus vorgeworfen. Es musste erst einer wie Gerhard Schröder kommen - einer, der nicht im Verdacht überhöhter Feinfühligkeit steht und dennoch irgendwie an den Gefühlsstrom der Linken angeschlossen ist. Mit einer kleinen Intervention hat der Kanzler das wabernde Gefühlsthema Zuwanderung zu einem Thema des ökonomischen Kalküls gemacht. In einem Land, das es nie verstand, das Erhabene und das Interesse in Verbindung zu bringen, ist das ein Fortschritt.

Und der hatte überraschend schnell gravierende Folgen. Es wird erstens nicht mehr lange dauern, dann hat auch der letzte "pro asyl"-Aktivist begriffen, dass es nicht moralisch konsequent, sondern dumm ist, Zuwanderung nur unter dem Mitleidsblickwinkel zu betrachten. In der SPD hat, zweitens, Schröders Vorstoß die Fronten erneut durcheinandergebracht und zugleich die wirklichen Probleme offen gelegt, die die Partei mit dem Thema hat: Konnte man zuvor noch geschlossen als Kollektiv der Ausländerfreunde auftreten und Front gegen die C-Parteien machen, hat man nun das Problem - wieder - im eigenen Haus. Die brüchige Koalition zwischen der "Toskana"- und der "Kanalarbeiter"-SPD wird zerbrechen, und den nationalen Wohlstandsbewahrern werden die polyglotten Internet-Sozis gegenüberstehen.

Und am wichtigsten vielleicht ist, drittens, der Wandel in der Union. Noch 1989 schrieb Wolfgang Schäuble düstere Texte über die deutsche Nation als eine Art Schicksalgemeinschaft, in die man schon hineingeboren sein müsse, um ihr angehören zu können. Und insgesamt ist es der Union in den 16 Jahren ihrer zweiten Regierungszeit nicht gelungen, von der Politik des bestenfalls hinhaltenden Widerstands gegen Zuwanderung wegzukommen. Es verhielt sich damit wie mit dem Sex im wilhelminischen Pfarrhaus: Man sprach lieber nicht darüber. Das ist nun, wo Schröder das Stichwort Eigennutz in die Debatte geworfen hat, schlagartig vorbei. Auf einmal scheint es in der Union überhaupt niemand mehr zu wagen, öffentlich Stichhaltiges gegen Zuwanderung vorzubringen. Auf einmal reden alle geschäftig vom Detail, vom Kleingedruckten. Und auf einmal ist der Widerstand nur noch zwischen den Zeilen zu erahnen. Etwa dann, wenn Edmund Stoiber von einem "Zuwanderungs-Begrenzungsgesetz" spricht: Wohl hört man die alte Philosophie der Begrenzung, der Unterbindung und auch einer imaginären ethnischen Reinheit heraus - offiziell aber ist von der gesetzlichen Regelung von Zuwanderung die Rede.

Die Union täte gut daran, mit etwas mehr Elan und Offenheit über das Thema zu streiten. So erfreulich es ist, dass sie von Zuwanderung nicht mehr nur unter negativen Vorzeichen spricht, so unerfreulich ist es, dass es in ihr plötzlich niemanden mehr zu geben scheint, der sich der - sagen wir: kulturellen - Bedenken annimmt. Deutschland sei, sagte der CDA-Vorsitzende Rainer Eppelmann, seit langem ein Einwanderungsland wie die USA, Kanada oder Israel. Da macht sich nun der Bock zum Gärtner: Anders als die USA, die durch Zuwanderung konstituiert, also ohne Zuwanderung gar nicht denkbar sind, ist Deutschland ein Staat, der aufgrund seiner verschlungenen, wirren nationalstaatlichen Vorgeschichte stets größte Schwierigkeiten hatte, ein verbindliches Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Dieses fiel entsprechend harsch und exklusiv aus. Das muss wissen und in Rechnung stellen, wer verantwortlich über ein Zuwanderungsgesetz reden will. Die Union sollte sich nicht schämen, zum Advokaten von Zweifeln zu werden, die nicht einfach verstockt, sondern Erbteil einer schwierigen Geschichte sind.

Den Autor erreichen Sie unter: schmid@welt.de