Neue Zürcher Zeitung, 20. April 2000

Zerfall der Infrastruktur im Irak

Verheerende Folgen des Uno-Embargos gegen das Zweistrom-Land

Ein amerikanischer Parlamentarier hat im Irak eine Erkundungsmission über Folgen des Uno-Embargos angetreten. Ein Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz über die Gesundheitsversorgung macht klar, dass die Leiden vieler Iraker auf einen weitgehenden Zerfall der Infrastruktur im Zweistromland zurückgehen.

vk. Limassol, 19. April

Der amerikanische Kongressabgeordnete Tony Hall hat sich seit Sonntag in Bagdad über die Auswirkungen des zehnjährigen Uno-Embargos informiert. Bei Besuchen in Spitälern stellte er fest, dass die Kindersterblichkeit weiterhin alarmierend hoch ist und dass die nötigen Medikamente und Nahrungsmittel trotz dem humanitären Uno-Programm «Erdöl gegen Lebensmittel» nicht ausreichen. Die Weltorganisation erlaubt Bagdad seit Ende 1999 unbegrenzte Erdölausfuhren, doch fliesst der gesamte Erlös auf ein Sperrkonto, aus dem nur humanitär motivierte Importe finanziert werden. Das amerikanische Staatsdepartement gibt dem Regime Saddam Hussein allein die Schuld für die humanitäre Katastrophe. Im Kongress und auch im Uno-Sicherheitsrat setzt sich aber langsam die Einsicht durch, dass die üblen Auswirkungen des Embargos so drastisch sind, dass sich ein gründliches Überdenken der Politik der Abschnürung aufdrängt.

Regeln der Sterilität nicht mehr einhaltbar

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) vermittelt in einem Bericht einen erschreckenden Einblick in das Ausmass des Zerfalls irakischer Infrastrukturanlagen nach zehn Jahren des Embargos, vor allem am Beispiel des Gesundheitswesens. Es konstatiert in den meisten staatlichen Spitälern und Kliniken, dass die ehemals hochmodernen Gebäude und Einrichtungen seit Beginn der Sanktionen 1990 fast überhaupt nicht mehr unterhalten und repariert werden konnten. Sogar im Karama-Universitätsspital von Bagdad, einem der grösseren der Hauptstadt, ist kein normaler Betrieb mehr möglich. «In den Krankenzimmern stehen rostige Betten mit durchlöcherten Matratzen ohne Leintücher. Es fehlt an Seife, Verbandszeug, Infusionsmaterial und -flüssigkeit. Nur zwei der sechs Operationssäle werden benutzt, und dies in höchst bescheidenem Ausmass. Die Grundregeln der Hygiene und Sterilität können nicht mehr beachtet werden, aus Mangel an Putz- und Desinfektionsmitteln sowie Wasser. Die zentrale Sauerstoffversorgung ist defekt. Nur wenige Narkoseapparate funktionieren. Es fehlt an Schmerzmitteln, vor allem für die postoperative Pflege», berichtet das IKRK.

«Hilfe kann nicht die Wirtschaft ersetzen»

Seit dem letzten Jahr besorgt das IKRK die Instandstellung von elf grossen Stadtspitälern, einschliesslich umfassender Gebäudereparaturen und der Neuausstattung der chirurgischen Abteilungen. 18 chirurgische Spitäler werden mit neuen Operationssälen versehen. Sämtliche Distriktverwaltungen erhalten eine Auswahl neuerer medizinischer Fachliteratur, denn infolge des Importverbots für solche Schriften ist der Wissensstand der irakischen Ärzteschaft merklich zurückgeblieben. Weiter macht das IKRK 26 Provinzkliniken wieder funktionsfähig; dafür stellt es insbesondere die Wasserzufuhr und -entsorgung sowie die Versorgung mit Elektrizität wieder her. Dazu kommt eine Ausstattung mit einfachen ärztlichen Instrumenten.

Ein ähnliches Programm des Wiederaufbaus verfolgt das IKRK im Bereich der Trinkwasserversorgung. Hier sind die Schäden infolge von Bombardierung und jahrelanger Abnützung durch eine jähe Trockenheit vergrössert worden, die den Wasserstand der Flüsse auf einen kaum je gesehenen Tiefstand hat absinken lassen. Über den Effekt der kontrollierten Importe sagt das IKRK: «Bestimmte Anlagen dürfen nun wieder importiert werden, etwa Pumpen für die Wasseraufbereitungsanlagen. Doch löst das längst nicht alle Probleme. Diese Maschinen müssen richtig installiert und die restlichen, verbliebenen Teile der Anlage entsprechend überholt werden. Die Regierung hat meist die Mittel nicht, um solche Aufträge zu vergeben. Hier müssen oft humanitäre Organisationen in die Lücke springen.» In zahlreichen anderen Bereichen der Infrastruktur lassen sich vergleichbare Zerfallserscheinungen beobachten, die den Irak aus dem hochtechnisierten Vorkriegsstadium in ein beinahe vorindustrielles Zeitalter zurückversetzt haben.

Das IKRK teilt in seinem jüngsten Bericht «Irak: A Decade of Sanctions» die Ansicht anderer humanitärer Organisationen, dass eine Aufarbeitung derart tiefgehender Schäden ohne die Aufhebung sämtlicher Einfuhrbeschränkungen kaum möglich sei. Es schreibt: «Die Ausnahmeregelungen des humanitären Uno-Programms, zusammen mit Hilfsprogrammen, können zwar bestimmte, besonders dringliche Nöte der Bevölkerung lindern. Aber dies kann nicht mehr als Flickwerk sein. Hilfe ist kein Ersatz für die gesamte Wirtschaft eines Landes. Sie wird niemals alle Grundbedürfnisse von 22 Millionen Menschen stillen und den umfassenden Zerfall der Infrastruktur eines Landes aufhalten.» Gewiss lässt sich der amerikanische Vorwurf nicht wegwischen, dass Saddam Husseins Regierung kostbare Ressourcen an überflüssige Prestigeprojekte wie Aufrüstung, Palastbauten und Sicherheitsapparate verschwendet. Aber da die Katastrophe nun einmal nach zehn Jahren der Sanktionen so weit fortgeschritten ist, dass ein ganzes Volk massiv darunter leidet, kann dieses Argument nicht die unbegrenzte Aufrechterhaltung der Abschnürung rechtfertigen.