junge Welt 18.04.2000

Solidarität neu definieren?

jW fragte Carsten Hübner, Mitglied des Bundestages und Sprecher der PDS-Fraktion für internationale Solidarität

F: Die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank in Washington brachte heftige Proteste und magere Ergebnisse. Zumindest scheint man sich aber über einen Schuldenerlaß für die ärmsten Staaten geeinigt zu haben?

Was das jetzt an realen Konsequenzen zeitigt und in welchen Zeitabläufen das dann vonstatten geht, wird sich erst noch zeigen müssen. In Washington ist deutlich geworden, daß es auch beim IWF inzwischen in dieser Frage ein Umdenken gibt. Mir scheint jedoch, daß dieses Umdenken eher mit einem Herauswinden aus der Verantwortung gegenüber den Entwicklungsländern verbunden ist.

F: Das IWF-Mitglied Kanada hat verlangt, die Auflagen für den Schuldenerlaß gegenüber den 41 ärmsten Ländern drastisch zu verringern.

Ja, hier bestehen Ähnlichkeiten mit dem Schuldenerlaß für osteuropäische Länder. Es geht auch darum, erst die Kriterien auszuhandeln. Es ist schon deutlich sichtbar, daß da vom IWF Kriterien formuliert werden, die für viele Staaten einen Schuldenerlaß sehr problematisch machen.

F: Beide sogenannten Bretton-Woods-Institutionen sind für ihre rigiden Auflagen an Kreditnehmer berüchtigt. Von der Entschuldung mal abgesehen: Haben ärmere Länder überhaupt eine Alternative, an Gelder für eine selbstbestimmte Entwicklung zu kommen?

Die Entschuldung kann nur ein Instrument für eine selbsttragende oder selbstbestimmte Entwicklungsoption sein. Grundsätzlich ist es so, daß die Entwicklungsländer am stärksten unter der ungerechten Weltwirtschaftsordnung leiden. Das heißt, die Volkswirtschaften dieser Staaten werden ganz bewußt auf Zulieferung von Rohstoffen oder als Produktionsstätten für Massenkonsumgüter reduziert. Alle anderen selbständigen Entwicklungen oder Entwicklungsversuche werden vom Norden ganz massiv torpediert. Die multinationalen Konzerne tun alles, um in diesen Ländern eigenständige Entwicklungen zu unterminieren und unmöglich zu machen. Sie verteidigen damit ihre Märkte und ihre Marktzugänge.

F: Auf dem Südgipfel in Havanna wurde kritisiert, daß die Politik von Weltbank und IWF jährlich mehr Menschenleben kostet als Kriege. Fidel Castro hat sogar gefordert, ein Tribunal nach dem Vorbild von Nürnberg einzurichten.

Wahrscheinlich haben die G-77-Staaten recht. Bei diesen strukturellen Ungerechtigkeiten besteht das Problem, daß sie in der Öffentlichkeit nicht so deutlich wahrgenommen werden. Wenn man aber die Umweltkatastrophen betrachtet, die im wesentlichen im Norden verursacht sind, wenn man die Entwickungsdefizite in vielen Ländern nimmt und wenn man das Handeln der autoritären Regime in Betracht zieht - die durch den Norden unter anderem aufgrund von Kapital- und Profitinteressen unterstützt werden - kommt man sicherlich zu Zahlen, die weit über das hinausgehen, was durch aktive militärische oder bürgerkriegsähnliche Zustände hervorgerufen wird.

F: Ist die Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung noch realistisch, und wenn ja, wie könnte eine solche Ordnung aussehen?

Die Forderung muß realistisch sein, sonst werden ganze Kontinente zu Zonen des Elends und der Armut. Afrika ist dafür ja ein trauriges Beispiel.

Natürlich geht es um die Selbstorganisation der Entwicklungsländer. Sie müssen sich auf ihre eigene Stärke berufen, sie müssen viel stärker zusammenarbeiten und dementsprechend ihre Interessen gegenüber dem Norden durchsetzen. Die Menschen in den entwickelten Ländern müssen begreifen, daß es eine verantwortliche Entwicklung für die ganze Welt nur gibt, wenn der Norden gegenüber dem Süden zuläßt, daß dort eigenverantwortliche Strukturen entstehen. Das betrifft den Handel, die Schuldenfrage, aber auch den Massenkonsum in den entwickelten Ländern. Das Entwicklungsmodell, welches hier so hoch gehalten wird, bedeutet für die Welt letztlich den ökologischen Garaus.

F: Welche grundsätzlichen Reformen bei IWF und Weltbank sind jetzt nötig?

Ganz dringend ist, daß die Strukturanpassungsprogramme, in welchem Gewand sie auch immer daherkommen, beendet werden. Wichtig sind Kriterien wie Nachhaltigkeit und nicht die Profitinteressen des Nordens. Wichtig sind Fragen der Ökologie, die eine Entwicklung an der Basis in diesen Ländern an dem orientiert, was nötig ist, nicht an dem, was man sich im Norden gern wünscht oder was man erzwingen will. Das Zweite ist, daß sämtliche Prozesse, die jetzt stattfinden, auch in diesen Institutionen demokratisiert werden. Die Entwicklungsländer müssen dort ein gleichberechtigtes Mitspracherecht haben. Außerdem müssen die Schulden, die jetzt auf den Entwicklungschancen des Südens lasten, möglichst schnell erlassen werden. Wir brauen letztlich eine neue Definition des Begriffs der internationalen Solidarität.

F: Wenn man allerdings die faktische Macht des globalen Kapitals in Betracht zieht, die Macht der Wallstreet beispielsweise, stellt sich doch die Frage: Was können Regierungen generell noch gegen das globalisierte internationale Kapital ausrichten?

Vielleicht sind die Regierungen dabei auch nicht der entscheidende Faktor. Die Menschen müssen begreifen, daß die Entwicklung, so wie sie die letzten Jahrzehnte vonstatten gegangen ist, sich in den nächsten Jahrzehnten noch dynamisieren und beschleunigen wird. Diese Entwicklung führt in die Katastrophe für den Globus. Das betrifft nicht nur die ökologischen Katastrophen, sondern auch die Lebensbedingungen der Menschen im sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bereich.

Interview: Klaus Fischer