Süddeutsche Zeitung 13.04.2000

Die Welt schaut in die Folterkeller

Umdenken im Völkerrecht: Verletzung von Menschenrechten ist keine innere Angelegenheit mehr / Von Stefan Ulrich

Augusto Pinochets Schicksal hätte ihn warnen müssen. Doch Hissene Habre merkte nicht, wie sich das Netz um ihn zusammenzog. Der frühere Diktator des Tschad lebte seit Jahren unbehelligt in einem Vorort von Dakar, der Hauptstadt des Senegal. Zurückgezogen, aber komfortabel verbrachte er seine Tage im Exil. Die 40 000 Ermordeten, die 200 000 Gefolterten, die seinem Regime von 1982 bis 1990 angelastet werden, schienen vergessen zu sein.

Lange Zeit bestand für Habre tatsächlich kein Grund zur Sorge. Schließlich war noch nie ein ehemaliger Staatschef im Ausland wegen Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen worden. Doch dann kam die Nacht des 16. Oktober 1998. In einer Londoner Klinik nahmen britische Sicherheitskräfte den langjährigen Militärherrscher Chiles fest. Augusto Pinochets Festnahme markiert eine Zeitenwende im Zusammenleben der Staaten. Sie zeigt: Staatschefs sind nicht mehr sakrosankt, jedenfalls nicht mehr ein Leben lang. Auch die Freilassung Pinochets wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit änderte nichts daran: Ein Tabu ist gebrochen.

Dies bekam als Erster Habre zu spüren. Ermutigt vom Fall Pinochets begannen Menschenrechtsgruppen im Geheimen, Beweise gegen den Ex-Diktator des Tschad zusammenzutragen. Senegals Justizminister signalisierte, er werde einem Verfahren freien Lauf lassen. Schließlich wurde vor einem Gericht in Dakar Klage gegen Habre erhoben. Der Vorwurf: Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Richter zitierte ihn am 3. Februar zu sich und stellte ihn unter Hausarrest. Einen Beinamen hat Habre schon bekommen: Afrikas Pinochet.

Pinochet ist überall

Auch anderswo geraten die alten Diktatoren unter Druck. Eine weltweite Bewegung aus Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Human Rights Watch, Opfervereinigungen, Staatsanwälten und Untersuchungsrichtern arbeitet an Anklagen und Haftbefehlen. So laufen in Spanien Verfahren gegen Mitglieder der früheren argentinischen Militärjunta und gegen drei ehemalige Diktatoren Guatemalas. In Belgien wurden Klagen gegen Irans Ex-Präsidenten Haschemi Rafsandschani und Ruandas gegenwärtigen Staatschef Paul Kagame eingereicht. In den USA wäre ein hoher indonesischer General wegen der Massaker in Ost-Timor beinahe vom Rollfeld weg festgenommen worden. Und manche NGOs fordern gar einen Prozess gegen Boris Jelzin und Wladimir Putin wegen des Tschetschenienkrieges.

Und dann sind da noch die Vereinten Nationen. Sie versuchen derzeit, internationale Gerichtshöfe für Ost-Timor und Kambodscha einzurichten. Zwei solcher Gerichte urteilen schon seit einigen Jahren: Das Ruanda-Tribunal in Arusha und das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag. Dort ist sogar ein amtierendes Staatsoberhaupt angeklagt: Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic. Er wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. In New York arbeiten Juristen aus aller Welt unterdessen daran, ein 1998 von 120 Staaten in Rom beschlossenes ständiges Völkertribunal zu errichten.

All dies sind Zeichen eines Paradigmenwechsels in der internationalen Politik und im Völkerrecht. Über Jahrhunderte stand die Staatensouveränität über allem. Nun bekommt das Souveränitätsprinzip Konkurrenz vom Gedanken der universalen Geltung der Menschenrechte. Die Idee setzt sich durch, dass Völkermord, schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine "innere Angelegenheit" sind, sondern die ganze Welt etwas angehen. Und dass es Recht, ja Pflicht aller ist, gegen die Täter vorzugehen. Ein US-Gericht hat dies treffend formuliert: "Wie einst der Pirat und der Sklavenhändler, so ist heute der Folterer zum Feind der ganzen Menschheit geworden."

Natürlich ist diese Entwicklung von heftigen Auseinandersetzungen begleitet. Staaten wie China oder Russland befürchten, die Menschenrechte könnten als Alibi für fremde Einmischung missbraucht werden. Und in Amerika argwöhnen nicht nur konservative Politiker, Schurkenstaaten könnten das geforderte Völkerstrafrecht als Propagandamittel gegen die USA benutzen.

Auch manche Völkerrechtler tun sich schwer mit der "justiziellen Intervention". Der Würzburger Juraprofessor Dieter Blumenwitz fasste die Bedenken vor kurzem auf einer Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung zusammen: Das Völkerrecht regele die Beziehungen zwischen gleichberechtigten Staaten, das Strafrecht setze dagegen ein Über-Unterordnungs-Verhältnis voraus, argumentierte er. Ein "Völkerstrafrecht" sei daher widersinnig. Zudem lasse es sich nur gegen kleinere Staaten, nicht aber gegen die Mächtigen durchsetzen. Es wirke also nicht gleich. So sei es problematisch, Pinochet zu verhaften und Putin zu hofieren. Schließlich sei der freie Verkehr zwischen den Staaten gefährdet, wenn ihre Vertreter nicht mehr vor Strafverfolgung immun seien.

Unruhiger Ruhestand

Diese Kritik wird auch von Verfechtern einer schlagkräftigen Weltjustiz ernst genommen. So räumt Jan Harder vom "Komitee für ein Effektives Völkerstrafrecht" ein: "Natürlich wäre es schön, alle Staatsverbrecher zu verfolgen. Aber dieses Ideal ist nicht zu erreichen." Dies rechtfertige es aber nicht, dann eben gar nichts zu tun. Denn das Strafrecht sei "die erfolgreichste Art der Vergangenheitsbewältigung".

Der Freiburger Strafrechtler Kai Ambos, der gerade an einem allgemeinen Teil des Völkerstrafrechts arbeitet, unterstreicht den Konflikt zwischen freiem Staatenverkehr und internationaler Strafjustiz. Er schlägt vor, nur ehemalige Staatschefs im Ausland zur Verantwortung zu ziehen, amtierenden aber ihre Immunität zu belassen. Einen Ausgleich zwischen der Staatensouveränität und dem Menschenrechtsschutz erwartet er von dem geplanten Weltstrafgerichtshof. Dessen Statut sei von Diplomaten beschlossen worden. Es sei nicht starr, sondern flexibel. Im Einzelfall könne das Tribunal durchaus von einer Verfolgung absehen, etwa wenn sonst der friedliche Systemwechsel in einem Staat gefährdet wäre.

Auch das künftige Weltstrafgericht kann also keine Verfolgung aller Tyrannen garantieren. Es wird aber dafür sorgen, dass Pinochet und Habre keine Einzelfälle bleiben. Der Ruhestand der Diktatoren dürfte unruhiger werden.