junge Welt 13.04.2000

Größere Armut nach Kriegsende

Versprochene staatliche Förderung im Südosten der Türkei bleibt aus

Einem Bericht der großen türkischen Tageszeitung Milliyet vom Montag zufolge könnte die Niederlage und nachfolgende Kapitulation der PKK in Türkei-Kurdistan statt des versprochenen wirtschaftlichen Aufschwungs dieser traditionell vernachlässigten Region noch größere Armut nach sich ziehen. Während des Guerillakrieges bestand ein Teil der türkischen Propaganda in der Behauptung, der Krieg behindere die wirtschaftliche Förderung der Region durch den Staat. Milliyet stellt nun aber fest: »Versprechen, Anreize für Investitionen im Südosten zu bieten, sind nicht gehalten worden.« Die Zeitung zitiert das Beispiel der Stadt Siirt mit ihren 130 000 Einwohnern. Dort hätten in letzter Zeit zwölf Fabriken wegen mangelnder staatlicher Förderung schließen müssen. Bei fünf halb fertiggestellten Fabriken seien die Bauarbeiten eingestellt worden. Die Zahl der Arbeitslosen wachse dementsprechend von Tag zu Tag. Die Wirtschaft der Stadt hänge vollständig von den rund 10 000 staatlichen Bediensteten, Armee- und Polizeiangehörigen ab.

Mit dem Ende des Guerillakrieges wird es auf Dauer keine Notwendigkeit für eine derart starke Präsenz der Repressionskräfte in dieser unwirtlichen Gegend geben. Die Folgen sind absehbar, wenn nicht statt dessen andere Tätigkeitsfelder entwickelt werden. Als »Entwicklungsfaktor« für den Südosten der Türkei bleibt damit im wesentlichen das gewaltige Staudamm- und Bewässerungsprojekt »Güney Dogo Projesi« (GAP) übrig, das aber, abgesehen von den Profiten der ausländischen Bauherren, nicht nur zu nachhaltigen Umweltschäden führt, sondern einen Großteil gerade der armen lokalen Bevölkerung weiter marginalisiert. Ganze Dörfer verschwinden in Stauseen, ohne daß ihre Einwohner vom Staat angemessen entschädigt würden. Ihnen ist ein Schicksal in den Slums der großen Städte wie Diyarbakir oder im Westen der Türkei beschieden.

Anton Holberg