Der Tagesspiegel 13. April 2000

Türkei - Griechenland

Wer macht den ersten Schritt?

Thomas Seibert

Noch nie war die griechische Flagge im türkischen Fernsehen so allgegenwärtig wie in den vergangenen Tagen. Das Land beobachtete die Parlamentswahlen beim lange Zeit verhassten Nachbarn sehr genau - die TV-Sender berichteten rund um die Uhr und live aus Athen, und auch die Zeitungen widmeten dem Ereignis breiten Raum. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte schauten sich die Türken eine griechische Wahl unter dem Gesichtspunkt an: Wer wird in den kommenden Jahren unser Partner sein? Nach dem Sieg von Ministerpräsident Kostas Simitis zeigte sich die türkische Regierung erleichtert und unterstrich ihre Bereitschaft, weitere Schritte zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den alten Rivalen in der Ägäis zu unternehmen. Zugleich beginnt das Nachdenken darüber, wie diese Schritte aussehen könnten; dabei werden ungewöhnliche Töne laut.

"Es war der erste Wahlkampf in Griechenland, bei dem nicht auf die Türkei eingeschlagen wurde", stellte die Zeitung "Milliyet" erstaunt fest. Weder Simitis noch sein Herausforderer Kostas Karamanlis hätten versucht, die Probleme zwischen beiden Ländern zum Stimmenfang auszubeuten. Der türkische Außenminister Ismail Cem zeigte sich erleichtert darüber, dass sein Amtskollege Yorgo Papandreou seinen Posten behalten soll. "Er ist jemand, dem wir vertrauen können", sagte Cem, der in den vergangenen Monaten eng mit Papandreou zusammenarbeitete und dabei auch ein gutes persönliches Verhältnis zum griechischen Außenminister entwickelte. Papandreou kündigte seinerseits eine Fortsetzung der neuen Türkei-Politik seiner Regierung an.

Erinnerung an den Ägäis-Konflikt

Dennoch fallen die Noten der Türken für die sozialistische Pasok-Regierung in Griechenland nicht überragend aus. Schließlich sei Simitis schon an der Macht gewesen, als 1996 der Streit über die Grenzziehung in der Ägäis beinahe einen Krieg zwischen den beiden Nachbarländern und NATO-Partnern ausgelöst hatte, hielt die Zeitung "Radikal" fest. Mit einer gewissen Nervosität registrieren die türkischen Zeitungen zudem, dass der als türkenfeindlich eingestufte frühere Außenminister Theodoros Pangalos ins Athener Kabinett zurückkehren soll, wenn auch in anderer Funktion.

Der Rücktritt von Pangalos wegen der Verwicklung griechischer Politiker in die Flucht von PKK-Chef Abdullah Öcalan nach Kenia markierte im Frühjahr 1999 den Anfang der neuen Annäherung zwischen der Türkei und Griechenland. Als Pangalos' Nachfolger knüpfte Papandreou mit Cem erste zarte Bande, die in die Aufnahme bilateraler Gespräche mündeten und durch die Hilfsbereitschaft von Türken und Griechen nach den Erdbeben in beiden Ländern zusätzlich verstärkt wurden. Schließlich stimmte Griechenland sogar der EU-Kandidatur der Türkei zu.

Gegenseitige Gebietsansprüche

Diese Erwärmung in den Beziehungen und die Erwartung der Türkei, dass sich das Verhältnis nach der Wahl in Griechenland weiter verbessert, kann aber nicht den Blick auf die vielen ungelösten Probleme zwischen beiden Staaten verstellen. Dazu zählen die gegenseitigen Gebietsansprüche in der Ägäis. Doch das dringendste Problem liegt im Mittelmeer: "Jetzt kommt zuerst das Thema Zypern auf den Tisch", sagte der türkische Politikwissenschaftler Hasan Ünal nach der Wahl beim Nachbarn.

Damit stehen die türkischen und griechischen Außenpolitiker vor einer der schwierigsten Aufgaben überhaupt. Zypern ist seit 1974 geteilt. Damals besetzten türkische Truppen nach einem Putsch griechischer Nationalisten in Nikosia den Nordteil der Insel, um den Anschluss Zyperns an Griechenland zu verhindern. Seit Jahren bewegt sich trotz wiederholter internationaler Vermittlungsbemühungen im Zypern-Konflikt nichts; doch so kann es nicht weitergehen, wenn die Türkei den angestrebten EU-Beitritt irgendwann einmal verwirklichen und Griechenland die EU-Mitgliedschaft Zyperns nicht gefährden will.

Diese Sicht der Dinge fasst in der Türkei immer mehr Fuß. Sami Kohen, der Doyen der außenpolitischen Leitartikler in der Türkei, analysierte am Mittwoch in "Milliyet": "Solange die Hauptprobleme nicht gelöst werden, kann der Normalisierungsprozess nicht vorangehen." Kohens Kollege Sedat Sertoglu forderte nach der Wahl in Griechenland, nun müsse einer den ersten Schritt tun, um aus der Sackgasse gegenseitiger Anschuldigungen beim Thema Zypern und bei den anderen Problemen herauszukommen. Sertoglu schreibt in der über jeden Verdacht einer unkritischen Zuneigung zu Athen erhabenen Boulevard-Zeitung "Sabah", was seine Vorschläge noch ungewöhnlicher macht: Man könnte auf Zypern oder in der Ägäis mit der Abrüstung beginnen - und etwa das "Ägäis-Korps" der türkischen Armee ganz auflösen.