Neue Zürcher Zeitung, 07.04.2000

Deutsche Verschwörungstheorien zu Kosovo

Kritiker des Nato-Einsatzes zwingen Berlin eine Debatte auf

Gegner der Nato-Operation gegen Belgrad haben der deutschen Regierung eine Diskussion darüber aufgenötigt, ob der Krieg nicht hätte vermieden werden können. Ferner wird Berlin bewusste Desinformation im Verlauf der Militäroperation vorgeworfen. In der Öffentlichkeit blühen Verschwörungstheorien.

eg. Berlin, 6. April

Seit sich der Beginn des Kosovo-Kriegs gejährt hat, wird in Deutschland eine Debatte über die Hintergründe der Militäroperation, ihre eventuelle Vermeidbarkeit und die politische Rechtfertigung des Kriegs durch die rot-grüne Koalition geführt. Die Diskussion geht von den Kreisen aus, die von Anfang an die Nato-Operation für einen Fehler gehalten hatten: Die PDS und Teile der Grünen gehören ebenso dazu wie einzelne Medienorgane. Die Argumentation besteht aus zwei Hauptthesen. Zum einen habe die Allianz nicht alles unternommen, um in den Verhandlungen von Rambouillet und Paris den Kriegsausbruch zu verhindern. Zum andern aber hätten es die westlichen Delegationen darauf angelegt gehabt, die Verhandlungen scheitern zu lassen, indem sie die jugoslawische Seite mit unannehmbaren Bedingungen konfrontierten.

Konzentration auf einzelne Dokumente
Als Beweis wird der sogenannte Annex B des im Februar letzten Jahres von der Jugoslawien- Kontaktgruppe (ohne Russland) vorgelegten Vertragsentwurfs zitiert. Die Kritiker der Nato-Operation leiten aus dem Zusatzprotokoll ab, man habe Belgrad bewusst ein inakzeptables «Besetzungsstatut» vorgelegt, um einen Vorwand für ein militärisches Eingreifen zu schaffen. Man richtet die Aufmerksamkeit ausschliesslich auf einzelne Dokumente und baut darauf Verschwörungstheorien auf, während der politische und diplomatische Kontext ausgeblendet wird.

Die jahrelange Vorgeschichte des zögerlichen Engagements der europäischen Staaten auf dem Balkan bleibt ebenso unberücksichtigt wie die diplomatischen Bemühungen in den Jahren 1998 und 1999 um eine friedliche Lösung. Auch die Schritte der jugoslawischen Gegenseite, von der jahrelangen Diskriminierung der albanischen Bevölkerung in Kosovo bis hin zu ersten planmässigen Vertreibungs- und Mordaktionen deutlich vor Beginn der Bombenangriffe, spielen in dieser ideologisch motivierten Beweisführung keine Rolle. Obwohl die Debatte mitunter irreal anmutet, zeigt sie in der Tagespolitik Wirkung. Erklären lässt sich das nur dadurch, dass in Deutschland selbst die Befürworter des Nato-Einsatzes diesem skeptischer gegenüberstanden als in London oder Paris. Die Protagonisten der rot-grünen Bundesregierung, aber auch die Vertreter der Opposition taten sich schwer damit, dass erstmals seit 1945 Deutsche zu den Waffen gegriffen haben.

Minister unter Rechtfertigungsdruck
In diesem Klima befinden sich besonders Aussenminister Fischer und Verteidigungsminister Scharping unter Rechtfertigungsdruck. Sie hatten im letzten Jahr die Luftangriffe nicht nur als politisch-militärische Ultima ratio, sondern vor allem als moralisches Gebot zur Verteidigung der Humanität dargestellt. Neben dem Annex B kreist die Debatte vor allem um den sogenannten Hufeisen-Plan. Das Verteidigungsministerium hatte im letzten April den angeblich von der Belgrader Führung bereits 1998 ausgearbeiteten Plan der Öffentlichkeit vorgestellt und behauptet, er belege, dass bereits seit langem die Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus Kosovo vorgesehen gewesen sei. Man berief sich auf geheimdienstliche Erkenntnisse, wollte aber unter Hinweis auf den Quellenschutz nicht sagen, auf welchem Weg das Dokument in deutsche Hände gelangt war.

Die etwas dubiosen, weil nicht belegten Ausführungen nehmen Kritiker zum Anlass, um die Existenz des «Hufeisen-Plans» zu bestreiten und der Bundesregierung vorzuwerfen, mittels Desinformation die Bevölkerung getäuscht zu haben. Dabei überschätzen sie ein einzelnes Schriftstück in seiner Bedeutung masslos. An den Massenvertreibungen und deren systematischer Durchführung besteht, völlig unabhängig vom «Hufeisen-Plan», kein vernünftiger Zweifel. Selbst wenn es das Dokument in dieser Form nicht gibt, war die Grundaussage der Hardthöhe richtig. Die heutige Erregung über den Plan steht in keinem Verhältnis zum Stellenwert der Episode im Gesamtzusammenhang des Kriegs und der ganzen Argumentation der Bundesregierung.

Die Parteien uneins in der Kosovo-Politik
Während sich die Aufmerksamkeit der Medien auf einen Nebenschauplatz richtet, findet in der deutschen Politik eine intensive Diskussion über die Zukunft Kosovos statt. Der bisher zwischen den Parteien herrschende Grundkonsens scheint dabei zu zerbrechen. Einig ist man sich zwar, dass die westliche Präsenz noch auf Jahre aufrechterhalten werden muss. Von allen Seiten ertönen auch Warnungen, der Westen dürfe Kosovo nicht wegen Gleichgültigkeit oder mangelnden Einsatzes ins Chaos abgleiten lassen. Während man den Krieg mit viel Glück und zu einem hohen Preis gewonnen habe, drohe der Frieden verloren zu gehen, sagte der aussenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Lamers. Zugleich stellt er die bisherige Grundannahme in Frage, wonach Kosovo als ungeteiltes, multiethnisches Gebiet zu erhalten sei. Lamers versteht dies als Beitrag, um die politischen Realitäten in einer Region anzuerkennen, die nach ganz anderen als den westeuropäischen Vorstellungen vom Zusammenleben der Völker funktioniert. Aussenminister Fischer wies diese Woche vor dem Bundestag den Vorstoss in aller Deutlichkeit zurück. Die deutsche Regierung bekenne sich zur territorialen Integrität und Souveränität der Bundesrepublik Jugoslawien, sagte er.