Neue Zürcher Zeitung, 07.04.2000

Gespannte Asyldebatte in Grossbritannien

Strikteres Gesetz - beschleunigtes Gesuchsprozedere

Mit empfindlichen Einschränkungen für Asylbewerber versucht die Regierung Blair, die Attraktivität Grossbritanniens für Wirtschaftsflüchtlinge zu senken. Obwohl das Land gemessen an der Bevölkerungszahl keineswegs an der Spitze der europäischen Aufnahmeländer steht, hat die Flüchtlingsdebatte in den letzten Monaten hohe Wellen geschlagen. Die neue Gesetzgebung hat nun zu neuen Kontroversen geführt.

pgp. London, 6. April

Ein britischer Lastwagenfahrer muss 12 000 Pfund Busse bezahlen, weil am Dienstag bei der Zollkontrolle nach der Kanalüberquerung in Dover sechs illegal Einreisende in seiner Ladung entdeckt wurden. Diese Strafe wegen blinder Passagiere riskieren die Chauffeure unter dem seit dem 3. April geltenden neuen britischen Immigrations- und Asylgesetz, und dabei ist unerheblich, ob sie von der menschlichen Zuladung wussten oder nicht. Der Verband der britischen Strassentransporteure hat deshalb mit dem Argument protestiert, eine Familie werde ja auch nicht gebüsst, wenn sie der Polizei einen Einbruch in ihr Haus melde.

Umstrittene Lager
Das neue Recht hat eine ganze Reihe von Verschärfungen gegenüber der bisherigen britischen Asylpolitik gebracht. Ihr Ziel ist, in offenkundiger Anlehnung an Praktiken, die auf dem europäischen Festland, vor allem in Deutschland, bereits erprobt sind, die Attraktivität Grossbritanniens für sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge zu senken und den Engpass im Asylverfahren zu beseitigen. Neben den neuen Bussen gehören zu den Massnahmen unter anderem bessere Passkontrollen durch die Fluggesellschaften vor Flügen nach Grossbritannien, ein beschleunigtes Verfahren zur Aufnahme oder Ausschaffung, die Abgabe von Kaufbons an Asylsuchende anstelle von sozialstaatlichen Barzahlungen, die Einrichtung von geschlossenen Aufenthaltslagern (processing centres) für Fälle, die im Schnellverfahren erledigt werden, und die Verteilung der Asylsuchenden auf das ganze Land.

Zu Kontroversen haben fast alle dieser Massnahmen geführt. Gegen die Eröffnung des ersten «processing centre» in einer ehemaligen Kaserne in Cambridgeshire gab es im März Proteste, bei denen sieben Personen festgenommen wurden. In dem Lager sollen gleichzeitig 400 Gesuchsteller untergebracht werden, «klare Fälle», über die innert Wochenfrist entschieden werden soll (sie können freilich Rekurs erheben). Dazu zählen straffällig Gewordene, denen die Ausschaffung droht. In England ist das Betteln verboten; geahndet werden zumindest seine aggressiveren Formen. Im März waren die britischen Boulevardblätter voll von Berichten über organisierte Gruppen von osteuropäischen Asylsuchenden, vor allem Frauen mit Babies, die auf öffentlichen Plätzen und in den Untergrundbahnstationen Londons die Passanten belästigten. Die Berichte waren in der Sache übertrieben und in der Sprache fremdenfeindlich aufgeheizt, wurden aber von der konservativen Opposition zur Kritik an der angeblich largen Haltung der Labourregierung gegenüber einer Schwemme von «falschen Flüchtlingen» benutzt. Anwalts- und Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass im Schnellverfahren der Auffanglager das Recht auf angemessenes Gehör nicht gewährleistet ist.

Die Überforderung der Asylbehörden durch den in den letzten Jahren gewachsenen Zustrom von Gesuchstellern ist eine Tatsache. Der Rückstau unerledigter Gesuche ist auf über 100 000 angewachsen. Innert zehn Jahren hat sich die Zahl der Gesuchsteller fast verzwanzigfacht, 1999 betrug sie laut dem Innenministerium über 71 000. Vor allem durch Einsatz zusätzlichen Personals, aber auch wegen des Rückgangs der Neugesuche konnte in diesem Februar der Trend umgekehrt werden, indem die Zahl der erstinstanzlichen Entscheidungen (7840) jene der neuen Asylfälle (6110) erstmals wieder übertraf. Das neue Gesetz strebt nun an, die Durchschnittsdauer zur Erledigung eines Asylgesuchs von 13 Monaten auf ein halbes Jahr zu senken.

Zu den Kernreformen im neuen Recht gehört auch die Abkoppelung der Asylsuchenden vom britischen Wohlfahrtsstaatssystem. Bisher haben sie, da sie nicht arbeiten dürfen, neben Gratiswohnung wie andere Bedürftige auch Unterstützungsgelder erhalten. Diese Barzahlungen werden jetzt, nach deutschem Vorbild und vom selben Unternehmen wie in Deutschland organisiert, durch Bons ersetzt, die in Läden gegen Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs umgetauscht werden können. Ihr Wert, beispielsweise 57 Pfund 37 für ein Paar, 26.60 für ein Kind unter 16 Jahren, entspricht 70 Prozent der vergleichbaren Unterstützungszahlungen für einheimische Wohlfahrtsempfänger. Das erlaubt höchstens ein notdürftiges Dasein.

Der britische Flüchtlingsrat bemängelt an den Gutscheinen vor allem, dass sie die Asylsuchenden stigmatisierten und eine der ohnehin verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft noch mehr möglicher Feindschaft aussetzten. Die grosse Wohltätigkeitsorganisation Oxfam hat beschlossen, in ihren 840 Secondhand-Läden die Annahme der Asylantenbons zu verweigern. Laut dem Innenministerium nehmen aber bereits über 4400 Detaillisten an der Regelung teil. Diese wird auch kritisiert, weil sie den Geschäften von der organisierenden Firma als neue Gewinnquelle angepriesen werde und weil ihnen untersagt ist, Herausgeld zu geben, wenn die Bons (die freilich in kleinen Beträgen ausgegeben werden) den Kaufbetrag übersteigen.

Entlastung des englischen Südostens
Zu bösem Blut und zu Ausbrüchen von Gewalttätigkeit, vor allem im letzten Sommer in Dover, hat die Konzentration der Asylsuchenden im Südosten Englands und in London geführt, weil die Neuankömmlinge bisher in der Regel dort untergebracht werden mussten, wo sie einreisten oder nach illegaler Einreise aufgegriffen wurden. Viele Lokalbehörden waren vom Zustrom überfordert oder zeigten sich unwillig, die Belastung länger zu tragen. Ein vom Verband der Lokalbehörden letztes Jahr mit Unterstützung der Regierung begonnenes Programm zur freiwilligen Übernahme von Asylanten in Mittel- und Nordengland und in Schottland hat wenig Erfolg gezeitigt: Nur 4000 statt der gewünschten 40 000 Plätze konnten gefunden werden. Das neue Gesetz gibt dem Innenministerium nun die Möglichkeit, die Streuung der Gesuchsteller über das Land zentral zu organisieren und zu finanzieren. Auch diese Massnahme ist unter den privaten Hilfsorganisationen umstritten, weil sie zur Trennung zusammenhängender Gruppen und zur Isolierung in noch weniger vertrauter Umgebung führe. Viele Lokalbehörden zeigen sich auch jetzt nicht kooperationswilliger und versuchen einander den Schwarzen Peter zuzuschieben.

Im gespannten Diskussionsklima ist eine differenzierte Betrachtung des britischen Flüchtlingsproblems, die die Gemüter eigentlich kühlen sollte, selten. Zeitungen und Politiker argumentieren fast immer mit der absoluten Zahl von Gesuchstellern, wenn sie Vergleiche im westeuropäischen Rahmen anstellen. So gesehen steht Grossbritannien hinter Deutschland im letzten Jahr an zweiter Stelle. Misst man die Gesuche jedoch an der Bevölkerungszahl, findet man das Land erst an elfter Stelle, weit vor allem hinter Kleinstaaten wie der Schweiz, Belgien oder den Niederlanden. New Labour, das sich sonst gern zum Anwalt des modernen, multikulturellen Grossbritannien macht, hat in der Asylantendebatte das Feld weitgehend den fremdenfeindlichen Stimmen überlassen. Dahinter steht wohl die Hoffnung, dass sich mit der strikteren Gesetzgebung das Problem innert Jahresfrist statistisch nachweisbar entschärfen lässt und von den Konservativen nicht mehr als zentrales Thema im nächsten Wahlkampf eingesetzt werden kann.