Berliner Zeitung, 7.4.2000

Türkisches Parlament lehnt Wiederwahl Demirels erneut ab

Schwere Niederlage für Premier Ecevit / Außenminister Cem gehört zu den Favoriten für die Nachfolge des Staatspräsidenten

ANKARA, 5. April. Die türkische Regierung unter Ministerpräsident Bülent Ecevit hat am Mittwoch eine schwere Abstimmungsniederlage im Parlament hinnehmen müssen. Eine von der Regierung angestrebte Verfassungsänderung, die Staatspräsident Süleyman Demirel eine zweite Amtszeit ermöglichen sollte, fand nicht die notwendige Mehrheit von 330 Stimmen. Nur 303 von 535 anwesenden Abgeordneten votierten für die geplante Verfassungsänderung. In einem weiteren Wahlgang wäre sogar eine Zweidrittelmehrheit von 367 Stimmen notwendig gewesen. Für Ecevit und seine Koalitionspartner, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und die Mutterlandspartei (Anap), ist das Ergebnis eine schwere Niederlage. Obwohl 406 Abgeordnete die Vorschläge unterzeichnet hatten und die Koalition 350 stimmberechtigte Abgeordnete hat, stimmten zahlreiche Parlamentarier nicht für die Reformen. Nach einer eilig einberufenen Sitzung mit MHP-Chef Devlet Bahceli und Anap-Chef Mesut Yilmaz betonte Ecevit jedoch, dass die Regierung ihre Arbeit entschlossen fortsetzen werde. "Wir respektieren die Entscheidung des Parlaments", sagte der Regierungschef.

Gefährdete Koalition

In Ankara beginnt nun die Suche nach einem Nachfolger für Staatspräsident Demirel, dessen Amtszeit Mitte Mai endet. Bereits ab Mitte April beginnt die Nominierung der Kandidaten. Als mögliche Bewerber waren in den vergangenen Tagen unter anderem Außenminister Ismail Cem, Parlamentspräsident Yildirim Akbulut, Justizminister Hikmet Sami Türk und Verteidigungsminister Sebahattin Cakmakoglu im Gespräch. Die Regierung hatte bereits bei der ersten Abstimmung über die Verfassungsänderung in der vergangenen Woche eine Niederlage erlitten. Ecevit betrachtet Staatschef Demirel als stabilisierenden Faktor. Die siebenjährige Amtszeit ohne Wiederwahlmöglichkeit sollte durch zwei fünfjährige Amtszeiten ersetzt werden.

Ecevit fürchtet auch, dass die Suche nach einem neuen Präsidentschaftkandidaten die Geschlossenheit seiner Koalition gefährdet. Damit wäre auch die Durchführung der tief greifenden Wirtschaftsreformen fraglich, die in der Türkei auf Grund eines Abkommens mit dem Internationalen Währungsfonds (IMF) und des gewünschten Beitritts zur EU anstehen.

Neben der Präsidentenfrage wurde im Parlament über Verfassungsänderungen zum Verbot von Parteien und höhere Pensionen für Abgeordnete abgestimmt. Berichten zufolge sind die Vorlagen nach dieser Wahlschlappe nun aber zurückgezogen worden.

Bestätigung durch Umfragen

Das Nein des Parlaments steht im Einklang mit dem Ergebnis einer Meinungsumfrage: Nach einer von der Zeitung "Radikal" veröffentlichten Umfrage will eine Mehrheit der Türken Demirel nicht erneut als Staatspräsidenten haben. 69,7 Prozent der insgesamt 1 048 Befragten sprachen sich gegen eine zweite Amtszeit Demirels aus. Gleichzeitig befürworteten 61,5 Prozent der Befragten eine Fortsetzung der Regierungskoalition. Auf die Frage, wer neuer Präsident werden sollte, nannten 21,6 Prozent Außenminister Cem. (dpa, AFP)