HANDELSBLATT, 7.4.2000

Besuch des Bundespräsidenten

Rau rechnet nicht mit baldigem EU-Beitritt der Türkei

ap ANKARA. Bundespräsident Johannes Rau hat sowohl die Türkei als auch die EU aufgerufen, auf einen Beitritt hinzuarbeiten. Zum Auftakt eines dreitägigen Staatsbesuchs machte er am Donnerstag in Ankara aber auch deutlich, dass mit einer Aufnahme so bald nicht zu rechnen ist. "Beide Seiten haben noch einen langen Weg vor sich, bevor der Beitritt zur Europäischen Union Wirklichkeit wird", sagte er bei der Begrüßung durch Staatspräsident Süleyman Demirel.

Demirel hob den hohen Stellenwert der Beziehungen zur Bundesrepublik in der türkischen Außenpolitik hervor. "Die bilateralen Beziehungen haben in letzter Zeit einen neuen Impuls erfahren." Er würdigte die entschiedene Haltung der Bundesregierung, der Türkei einen Platz in Europa zu eröffnen. Die Entscheidung des Luxemburger EU-Gipfels 1997, sein Land auszuschließen, sei ein Fehler gewesen.

Rau erinnerte an Kemal Atatürk, an dessen Mausoleum er am Morgen einen Kranz niedergelegt hatte, als Gründer der modernen Türkei. In seiner Tradition sehe das Land den europäischen Horizont hinter dem Weg zum vorgezeichneten Ziel. "Der Weg zum Ziel hat begonnen", sagte er mit Hinweis auf den in Helsinki beschlossenen Kandidatenstatus der Türkei. "Wer ihn geht, weiss, dass es auf seine Fortschritte ankommt, wann das Ziel erreicht wird." Freunde müssten aber auch ehrlich miteinander umgehen und offen sprechen, fügte er hinzu. "Beide Seiten sind gefordert, sich aufeinander vorzubereiten." Wenn dies gelinge, bestehe Grund zur Zuversicht.

Zu seinem Staatsbesuch, dem ersten eines Bundespräsidenten seit 14 Jahren, komme er als Freund der Türkei, betonte Rau. Die über zwei Mill. Türken, die in Deutschland lebten und von denen viele dort eine zweite Heimat gefunden hätten, bildeten wie die in der Türkei lebenden Deutschen eine Brücke zwischen beiden Ländern. Das Projekt in Bolu, wo mit deutscher Hilfe Winterquartiere für obdachlos gewordene Erdbebenopfer gebaut wurden, bezeichnete er als Ausdruck der deutschen Solidarität mit dem türkischen Volk.

Ein Besuch in Bolu stand für Freitag auf seinem Besuchsplan, ebenso wie eine Begegnung mit türkischen Menschenrechtlern. Die innenpolitischen Probleme der Türkei hatten zunächst keinen Einfluss auf das Programm. Die Regierung war am Mittwoch im Parlament zum zweiten Mal mit dem Versuch gescheitert, Demirel eine Wiederwahl zu ermöglichen. Die Amtszeit des 76-Jährigen läuft im Mai aus. Die Abstimmungsniederlage wurde als Schlag für Ministerpräsident Bülent Ecevit gewertet, mit dem Rau ebenfalls zusammentreffen wollte.