Der Kurier, 6.4.2000

Im vollen Wartesaal der Europäer

Die Türkei will zu den übrigen EU-Bewerberländern aufschließen - sie macht sich aber keine Illusionen über einen raschen Beitritt er Spitzenbeamte aus Ankara übt sich in Zurückhaltung: "Unsere Regierung ist sich voll bewusst, dass die Türkei die Kriterien für die Europäische Union heute noch nicht erfüllt. Ein rascher Beitritt ist auch nicht unser Ziel," sagt Nezihi Özkaya, der als Vizegeneraldirektor die EU-Belange des Außenministeriums regelt.

Sogleich unterstreicht Özkaya aber die Bemühungen Ankaras, zu den übrigen 12 Bewerberländern aus Osteuropa und dem Mittelmeer aufzuschließen: "Wir tun alles, um das Land ökonomisch attraktiver zu machen. Zehn Prozent der Gesetzgebung ist bereits EU-konform. Wir wollen die Wartezeit für weitere Anpassungen nutzen."

Bei einem Seminar in Istanbul, kurz vor weiteren Vorbereitungsgesprächen in Brüssel nächste Woche, geben selbst hohe EU-Beamte zu, dass Bewegung in die türkisch-europäischen Beziehungen gekommen ist.

Seit dem verheerenden Erdbeben in der Türkei im Vorjahr hat es selbst eine Annäherung zum Erzfeind Griechenland gegeben. Das Klima sei heute viel positiver als nach dem Tiefpunkt beim EU-Gipfel in Luxemburg 1997, meinen Erweiterungsexperten.

Damals war Ankaras Bitte nach Beitrittsverhandlungen abgewiesen worden, worauf die Regierung Yilmaz den Eklat suchte, von einem tiefen Bruch sprach. Der bestand tatsächlich, und Gründe gegen einen Beitritt der Türkei gibt es immer noch: Die Missachtung der Menschenrechte, der Pressefreiheit, der Hang der Armee, zu putschen, Folter, abhängige Richter.

All diese Dinge zu klären, sei Vorbedingung für Verhandlungen, weiß man in Brüssel. Hinzu kommt, dass die schiere Größe der Türkei mit ihren 65 Millionen Einwohnern die EU überfordert.

"Wir haben den politischen Dialog auch nach Luxemburg niemals aufgegeben, erklärt jedoch Erik van der Linden, Chef des EU-Kommissionsteams, das die Gespräche mit der Türkei führt. "Sehr simple Gründe haben seit Luxemburg zur Verbesserung geführt. In Deutschland ist zum Beispiel Schröder auf Kohl gefolgt. Seither gibt es Bewegung."

Seit 1999 ist die Türkei Beitrittskandidat, doch Brüssel warnt vor Euphorie: "Wir sind noch in einem Vorbereitungsstadium, zwar mit intensiviertem Dialog, aber noch immer mit Vor-Erweiterungs-Strategie." Politik scheue klare Worte, sagt van der Linden, "unser Auftrag lautet, den Prozess der Bedingungen für eine Aufnahme vorzubereiten, nicht aber, diese durchzuführen."

Inzwischen beschränkt sich der Fortschritt auf die Zollunion mit der EU. Die Wirtschaft ist ohnehin das geringste Problem für den Beitritt. "Die türkische Industrie ist viel stärker als die der meisten anderen Bewerberländer", sagt van der Linden. "Der schwierige Teil ist der politische.

Wir wollen vor der Türkei nicht die Tür zuschlagen, doch wenn wir zu nachgiebig sind, erhalten wir Druck aus dem Europaparlament, von Menschenrechtsgruppen und den Medien." Es gebe europäische Grundwerte, über die man nicht verhandeln könne.

Abstimmung geriet zur Zerreißprobe für türkische Regierung

Selbst ein enger Berater des türkischen Premiers Bülent Ecevit hatte sich vor der mit Spannung erwarteten Abstimmung pessimistisch gezeigt. Er glaube nicht, dass die geplante Verfassungsänderung, die Staatspräsident Demirel eine Wiederwahl ermöglichen sollte, im Parlament am Mittwoch durchgeht, meinte der Polit-Profi zu Diplomaten. Der Regierung drohte eine peinliche Niederlage.

Zur Vorgeschichte: Der 75-jährige Ecevit hatte dem 76-jährigen Demirel, seinem Gegenspieler in den 70er-Jahren, zugesichert, dass er nicht aus dem Präsidentenpalast ausziehen muss. Dafür wäre eine Reform des Grundrechtes nötig. Denn bisher war bloß eine siebenjährige Amtsperiode möglich, die für Demirel am 16. Mai endet. Der neue Entwurf sah zwei terms a fünf Jahre vor.

Doch Ecevit hatte die Rechnung vorerst ohne die eigenen Koalitionspartner gemacht. Schon in der Vorwoche war der Gesetzesantrag in erster Lesung glatt durchgefallen. Lediglich 253 Abgeordnete votierten mit Ja. Das heißt: Auch 100 Mandatare der Regierungsparteien, die insgesamt über 352 Stimmen verfügen, lehnten die Initiative ab. "Es gab etwas Magisches, das dieses Bündnis zusammenhielt (bestehend aus Ecevits Sozialisten, den rechten Ultranationalisten und der konservativen "Mutterlandspartei" ANAP von Mesut Yilmaz; Anm.). Dieser Zauber ist gebrochen", so der Kommentator der türkischen Zeitung Radikal.

Umgehend drohte Ecevit, der sich von einer Verlängerung der Ära Demirel Stabilität erhofft, mit dem Rücktritt. Gleichzeitig betrieb er intensives Lobbying für sein Projekt. Einerseits erhöhte er den Druck auf Mesut Yilmaz, damit dieser Linie hält - dem ANAP-Chef werden selbst Ambitionen auf das höchste Amt im Staat nachgesagt.

Andererseits versuchte er, der Opposition die Verfassungsänderung, für die eine Zweidrittel-Mehrheit von 367 Stimmen nötig ist, schmackhaft zu machen. Der islamistischen "Tugendpartei" (FP) etwa, gegen die der Staatsanwalt ermittelt, stellte er ein liberaleres Parteiengesetz in Aussicht, um sie vor dem Aus zu "retten". Doch der FP waren die Zugeständnisse zu wenig weit reichend. Laut einer Umfrage der Zeitung Radikal in den Städten Istanbul, Ankara und Izmir sprachen sich jedenfalls 70 Prozent der Befragten gegen eine zweite Amtsperiode Demirels aus. An der jetzigen Regierungskoalition will die Mehrheit aber festhalten (62 Prozent). So wurde allgemein vermutet, dass das Kabinett von Ecevit auch nach einer etwaigen Schlappe im Abgeordnetenhaus weiter bestehen wird.

Ein zusätzlicher Grund: Angesichts der jüngsten Wirtschaftsdaten (6,4 Prozent Rezession im Vorjahr, 60 Prozent Inflation) gäbe es bei einem Urnengang derzeit wenig zu gewinnen.

Als mögliche Demirel-Nachfolger (der Präsident wird durch das Parlament gewählt) wurden Außenminister C¸em und Justizminister Türk genannt.

Autor: Norbert Mayer, Walter Friedl