Frankfurter Rundschau 06.04.2000

Rau macht Ankara keine großen Hoffnungen

Bundespräsident sieht EU-Beitritt wegen der Menschenrechte noch in weiter Ferne

Von Knut Pries

Vor Beginn eines dreitägigen Besuchs in der Türkei hat Bundespräsident Johannes Rau optimistische Erwartungen der Gastgeber auf einen raschen Beitritt zur Europäischen Union gedämpft.

THESSALONIKI, 5. April. "Die Türkei kann zu Europa gehören, aber die Voraussetzungen sind gegenwärtig noch nicht gegeben", sagte Rau am Mittwoch bei einer Diskussion in der Deutschen Schule im nordgriechischen Thessaloniki. In Ankara will der Bundespräsident am heutigen Donnerstag unter anderem mit seinem Kollegen Süleyman Demirel und Regierungschef Bülent Ecevit sprechen.

Rau erinnerte an den Besuch seines Vor-Vorgängers Richard von Weizsäcker 1986, der damals den Türken bescheinigt hatte, "Fortschritte gemacht" zu haben. In der Zwischenzeit sei aber zu wenig geschehen: "Die Fortschritte seither, in diesen 14 Jahren, waren längst nicht groß genug". Rau bezog sich dabei vor allem auf die Menschenrechte. Er hat für Freitagvormittag türkische Menschenrechtler zu einem Gespräch eingeladen, "und ich tue das nicht heimlich, sondern ganz offen, damit die türkische Regierung weiß, auf welcher Seite die Deutschen stehen".

In der Diskussion mit deutschen und griechischen Schülern wurde der Bundespräsident erneut auf Entschädigungsforderungen griechischer Dörfer angesprochen, in denen deutsche Wehrmachtsbesatzer im Zweiten Weltkrieg Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hatten. Er hoffe, dass diese Frage nicht von den Gerichten entschieden werde. Juristisch sehe er keine Möglichkeit einer Entschädigung. Etwas anderes sei die Zahlung eines "symbolischen Betrages". Ob die Bundesregierung dazu bereit sei, wisse er nicht, werde aber entsprechende Erwartungen seiner griechischen Gesprächspartner, vor allem Präsident Konstaninos Stefanopoulos und Ministerpräsident Kostas Simitis, zu Hause weitergeben.

Das Thema habe durch die Debatte um Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter des Dritten Reiches neue Aktualität bekommen, meinte Rau. "Es stellt sich die Frage, ob nicht eine symbolische Geste der Deutschen an die Griechen sinnvoll wäre." Das oberste griechische Gericht will in Kürze über eine Klage des zentralgriechischen Ortes Distomo entscheiden, der von der Bundesrepublik 50 Millionen Mark Entschädigung für eine 1944 von deutschen Soldaten vollstreckte Massenhinrichtung verlangt.