Die Welt, 6.4.2000

Das Beben zittert in den Opfern nach

Heute trifft Bundespräsident Rau zum Staatsbesuch in der Türkei ein. Auf seiner Reise wird er auch Überlebende des Erdbebens vom letzten Sommer treffen. Noch immer leiden die Menschen und Städte unter dem traumatischen Schock. Und auch der Wiederaufbau geht nur langsam voran

Von Thomas Delekat

Es gibt keinen Bahnhof in Yalova. Es kann auch keinen geben. Das muss so sein, Emine weiß es sicher. Denn Tag und Nacht sind die Laster, Sattelschlepper, Busse unterwegs auf der Uferstraße nach Yalova. Meist schickt das Marmarameer eine Brise über den Strand und den geflickten Asphalt. Dann pfeifen die Aufbauten an den Lastzügen. Tag und Nacht rumpeln die Lkws vorbei an den riesigen Röhren der Acrylfaserfabrik, vorbei an zusammengefallenen Ferienhäusern, und bevor die endlose Karawane Yalova erreicht, rattert sie mit flatternden Planen an ihr vorbei: Großmütterchen Emine, mit schlohweißem Haar und blauen Augen. Sie heiße Kurt mit Nachnamen, sagt sie, was auf deutsch Wolf bedeute, und dass sie 72 Jahre alt sei. Seit ein paar Wochen wohnt sie hier draußen an der Straße nach Yalova, und ganz allein. Ausgenommen Öcalan, natürlich. Da drüben. Emine zeigt aufs Meer. Öcalan, ihr Nachbar, sozusagen. Mit einem Fernglas käme die Gefängnisinsel ganz nah heran. Als in der Nacht des 17. August halb Yalova zusammenfiel, knirschte auch an Öcalans Festung jeder Stein, und das Meer hatte riesige Wellen über die Insel geworfen. Öcalan saß in seiner Zelle und zählte noch einen Grund zur Flucht hinzu. Jetzt fordern seine Anwälte: Erdbebensicherheit für Öcalan. Aber er bleibt, das muss er wohl - genau wie Emine am Ufer gegenüber. Emine sitzt am Straßenrand gleichsam in einem Bett. Ein Kiesbett ist es, neu aufgeschüttet, absolut plan angelegt und etwa ein Hektar groß. Darauf 82 Doppelbaracken aus blechverkleideten Pressspanplatten, jede Häuschenhälfte 25 Quadratmeter groß, mit betoniertem Fußboden und fließendem Wasser, aber toten Steckdosen. Hier lebt Emine seit ein paar Wochen, hier haust sie in ihrer kleinen blechernen Stadt aus Notunterkünften mit Platz für 164 Familien - als Einzige und ganz allein. Wenn es dunkel wird, glänzt das Zink ihrer Hütte neu und silbrig im Licht der Acrylfabrik gegenüber. Die Scheinwerferkegel der röhrenden Fernlaster flitzen und springen über die Falzrillen ihrer Baracke. Ein paar ausgemergelte Wächter mit wettergegerbten Gesichtern schleichen durch die leer stehende Planquadratsiedlung. Ansonsten sitzt Emine allein im Dunkeln an der lauten Überlandstraße, ohne Lampe, ohne Kerzen. Nur die glühenden Heizwaben auf der Gasflasche strahlen ein wenig Wärme ab und verbreiten ein mattes, dunkelrotes Licht in ihrer ansonsten zappendusteren Baracke. Sie hatte im Erdgeschoss geschlafen während dieser furchtbaren Nacht, sagt Emine, und sofort mit den ersten starken Stößen war das Haus über ihr zerplatzt. Aber es begrub sie so glücklich unter sich, dass Enkel und Kinder sie nach einer halben Stunde ins Freie zogen, völlig unversehrt. Darauf fiel sie um, in eine lange Ohnmacht. Von den 78 000 Einwohnern Yalovas starben 2500 unter den Trümmern ihrer Häuser, 5500 verletzt - so steht es in der Katastrophenstatistik des Bürgermeisters. Aber verheerender als an Mauern, Türmen und Brücken rüttelte die Erde an etwas Unsichtbarem. Nach gut einem halben Jahr verspürt die Stadt alle Folgen eines psychischen Nachbebens. Schockempfinden, Traumata, urängstliche Reflexe beginnen die Stadt ein zweites Mal zu erschüttern, das Beben zittert in seinen Opfern nach. Es wird die Stadt Yalova nachhaltiger zerstören als die Verwerfungen der Erde. Dafür gibt es viele, unübersehbare Zeichen. Yalova ist ein blühender, fast mondäner Badeort gewesen, die erste Adresse für betuchte Leute aus Istanbul, die in 45 Minuten per Schiff anreisen konnten. Von oben, aus der Luft, sieht das Weichbild der Stadt mit seinen vielen abgeräumten, kahlen Trümmergrundstücken nun aus, als leide Yalova an Krätze. In der Stadt, in der 14 000 Wohnungen kollabiert oder unrettbar beschädigt sind, weitere 26 000 mäßig mitgenommen - in dieser unbehausten Stadt unzähliger Obdachloser ist seit neuestem eine gespenstische Entwicklung ihren Lauf: Es sinken die Mieten der intakt gebliebenen Gebäude, und noch grotesker - die Immobilienpreise sind ins Bodenlose gefallen. Yalova - eine verstoßene Stadt, gemieden, verlassen von allen, die eine Gelegenheit dazu sahen, eine verbotene Stadt fast, ein Unglücksort. Wer irgend kann, lässt Yalova hinter sich. Bis auf die Übriggebliebenen in den selbstgezimmerten Bretterverschlägen, bis auf die Familien in den Zeltstädten am Strand und im Zentrum, bis auf die Überlebenden in den Barackendörfern, sind die Einwohner Yalovas aus ihrer ruinierten Stadt geflohen. Viele auch darunter, deren Häuser, deren Wohnungen ohne Schäden geblieben waren. Es ist still, fast ländlich geworden in Yalova. Im Umkleidehäuschen des Fußballstadions, das der Stadtverwaltung als Unterschlupf dient, heißt es unter der Hand, mindestens ein Viertel der Bevölkerung habe das Weite gesucht, und "die werden wir wohl nicht wieder sehen". Der Vizebürgermeister von Yalova blickt durch die Fensterscheiben der Umkleide auf den staubigen Platz davor. Eine große Fläche, weit und leer geräumt. Noch vor einem halben Jahr kampierten hier Zelt an Zelt die Nationen, Rumänen, Griechen, Japaner, Italiener, Deutsche und Franzosen. Jetzt packen gerade ein paar Soldaten der türkischen Armee ihre Siebensachen, die allerletzten der Erdbebenhelfer. Die Katastrophe ist offiziell zu Ende. Andere werden Yalova wieder aufrichten. "Die Leute vom Strand", sagt der zweite Mann von Yalova, bricht ab und macht eine Geste wie einen Gedankenstrich. Dann sagt er noch: "Problem, Problem", die mit Abstand gängigste Vokabel in der Türkei. Die "Leute vom Strand" mit ihrer Unvernunft, mit ihrer Angst - in ihnen sieht der zweite Bürgermeister Yalovas das Menetekel seiner zukunftslosen Stadt. Denn die Leute vom Strand bewohnten vor dem Beben die beste Immobilienlage der Stadt, ganz vorn, ganz nah am Meer. Die allermeisten überstanden die Nacht des 17. August erschreckt, aber so unversehrt wie ihre Häuser. Trotzdem wollen die meisten nicht zurück, sie sträuben sich, sie nehmen alles in Kauf. Lieber die Kälte der Zelte. Lieber die Enge, der Schmutz, das verwahrloste Leben als dorthin zurück, wo der Tod ganz nahe war - zu den vier eigenen, vertrauten Wänden, die einmal ins Wanken gekommen waren. Am 1. April war Stichtag für die Zukunft Yalovas. Am 1. April endete das Warten auf weitere Nachbeben, seit dem 1. April darf wieder betoniert, gemauert und Richtfest gefeiert werden. Dort, wo die Erde eine Furche durch die Stadt zog, eine Schneise, eine Lichtung, wo jetzt unter ein paar schmutzigweißen, lappigen Zeltplanen der Gymnasialunterricht stattfindet - dort soll das neue, schöne Yalova aus der unruhigen Erde wachsen. Auf dem Hügel gegenüber, wo die Armut haust, viele Kurden, die großen Zigeunerfamilien, steht schon ganz aus Holz und Glas eine kleine, neue Grundschule, rund um die Uhr zusammengeschraubt. "Pack, das alles da oben", sagt wütend Hakan, ein junger Familienvater. Auch er kann sich nicht damit abfinden, was vielen übel aufstößt: dass die Katastrophe Tausende das Leben kostete und Tausende vertrieb - und dennoch Tausende anzog, Tausende von weit her, aus den Hungerregionen Anatoliens, der Osttürkei. Im Chaos erhofften sie sich Essen, Unterkunft, etwas von den Hilfsgeldern, einen Platz zum Bleiben. Die Gefahr, das Risiko sei ihnen egal gewesen, sagt ein Kurde, der sich Celal nennt. Wenn er sich unbeobachtet fühlt, tuschelt er mit seiner Frau und den vier Kindern kaum hörbar, flüsternd auf Kurdisch. Ansonsten fällt Celal nicht weiter auf in Yalova. Er hat das Glück, akzentfrei Türkisch zu beherrschen. Unglaublich, sagt Hakan. Die Regierung langt mit schmerzhaften Sondersteuern zu. Und wofür? Sie will die Häuser im Erdbebengebiet, sie will auch Yalova wieder aufbauen - genau da, sagt Hakan, wo die Erdkruste brach, auf der Linie des Todes, der Zerstörung, in die Baulücken hinein, auf den Unglücksgrundstücken. Dann lieber auf einer Uran- oder Wasserader leben oder auf Sand bauen, sagt Hakan. Niemand, der vor einem Berg aus Schutt und Leichen stand, wird an dieselbe Stelle als Mieter, als Eigentümer zurückkehren. Wissen die das in Ankara nicht?

Die rund 5200 Baracken für die Obdachlosen von Yalova liegen rund um die Stadt verstreut, kleine Siedlungen an Straßen und Feldwegen. Viele der kasernenmäßigen Anlagen sind nicht einmal zur Hälfte bewohnt, die von Emine - sie selber ausgenommen - gar nicht. Nur die wenigsten sind fast komplett belegt. Schuld daran sei eine bescheuerte Anweisung aus Ankara, sagt einer von der Stadtverwaltung. Die hätten zwar für Notunterkünfte gesorgt, aber gleichzeitig für deren Leerstand. Im Bürgermeisteramt hätten sie fragen müssen: Wollen Sie eine der Baracken oder lieber einen Reparaturzuschuss für Ihre Wohnung - 350 Mark im Monat, ein Jahr lang? Viele von denen, die außer dem Leben alles verloren hatten, Arbeit, Wohnung, Ersparnisse, kehrten in ihre undichten Zelte und Verschläge zurück. Von dem Renovierungsgeld kauften sie das Essen für ihre Familien und Gas in Stahlflaschen zum Heizen und Kochen. Emine, großmutterseelenallein in der Barackenstadt an der Straße nach Yalova, ist allerbester Dinge. Zuletzt hatte sie mit sechs Verwandten in einem Zimmerchen gehaust, das ging nicht mehr. Aber hier ist es umgekehrt. Kein Gesicht seit drei Tagen, ruft sie aufgekratzt und lacht dabei vor Freude über den unverhofften Besuch. Und wenn sie schon gefragt wird, was sie sich wünschen würde, dann wäre das: eine Flasche Öl zum Kochen. Ein bisschen frisches Gemüse. Vielleicht ein Batterieradio und ein paar Kerzen. Vor allem aber, dass jemand kommt, ihr die handbreiten Ritzen im schlampig zusammengehauenen Wohnkarton zu schließen. Saukalt wird's hier in der Nacht, und wie das zieht. Die Dämmerung kommt schnell vom Meer über die Straße zu ihr. Sie merkt es an den Lkw-Schweinwerfern, die durch das Barackenfenster leuchten und innen über die Wand wandern - sie werden rasch heller und schärfer. Emine knotet wieder ihr dickes, warmes Tuch über Haar und Ohren, kauert sich vorn auf die Sofakante und wickelt dort die Maschen eines alten Pullovers zu großen Wollknäueln auf. In ein paar Tagen, sagt sie, werden daraus ein paar schöne, warme Sofakissen geworden sein.