Der Tagesspiegel 4. April 2000

Verfassungsschutzbericht 1999

Mordaufruf im Internet

Auch Rechtsextreme nutzen immer stärker E-Mails, um sich zu organisieren. Geheimbeamte verfolgen ihre Datenspuren

Robert Birnbaum

Deutschlands Verfassungsschützer müssen neues Handwerkszeug erlernen. Zwar ist der klassische Schmäh, die Geheimbeamten bezögen ihr Wissen weit überwiegend aus sorgfältiger Lektüre der Tageszeitungen, nie ganz richtig gewesen. Aber eins stimmte doch: Gut 90 Prozent ihrer Informationen bekommen das Kölner Bundesamt und seine Länder-Ableger nach Schätzung von Experten dadurch, dass sie Schriftliches auswerten; nur ein Zehntel des Wissens über Rechts- und Linksextremisten oder gefährliche Ausländergruppen stammt aus anderen Quellen. Doch auch Radikale gehen eben mit der Zeit. 1995 tauchte das Stichwort "Internet" erstmals als Überschrift im Verfassungsschutzbericht auf. Inzwischen herrscht auf der Datenautobahn reger Radikalen-Verkehr. In nüchternen Daten liest sich das im neuen Verfassungsschutzbericht 1999 zum Beispiel so: "Die Zahl der von deutschen Rechtsextremisten betriebenen Homepages im World Wide Web (WWW) ist auf über 330 kräftig gestiegen." Ein Jahr davon hatten erst etwa 200 Rechtsextreme eine eigene Seite im Internet. Auf der Linken geht der Trend in die gleiche Richtung: "Nahezu das gesamte linksextremistische Spektrum ist inzwischen im Internet vertreten", schreibt das Kölner Amt. Und auch die ausländische Extremistenszene bedient sich der modernen Mittel - allen voran die Kurdische Arbeiterpartei (PKK). Für sie alle hat das weltweite Computernetz enorme Vorzüge. Beispielhaft zeigt das der Bericht an der rechten Szene auf. Kein anderes Medium gestattet es, einen weit verstreuten Kreis von Gesinnungsgenossen so rasch anzusprechen. Nirgends sonst lässt sich Propaganda so gefahrlos verbreiten: So genannte "Remailer"-Dienste ermöglichen es, den Absender einer Mitteilung in der Anonymität verschwinden zu lassen. Dadurch, notieren die Verfassungsschützer, fühlten sich viele Rechtsextreme vor Strafverfolgung sicher "und gaben ihre Zurückhaltung hinsichtlich der Einstellung strafbarer Inhalte ins Internet immer mehr auf". Eine in der Neonazi-Szene populäre Homepage hat gleich eine eigene Rubrik "Strafbare Inhalte" eingerichtet - die Kundschaft braucht die Texte nur noch abzurufen. Gegen unerwünschte Mitleser sind solche Seiten oft mit Passworten gesichert. Auch sonst nutzen technisch begabte Rechtsextreme die Möglichkeiten des neuen Mediums voll aus. "Radio- und TV-Sendungen über Internet sind keine Seltenheit mehr", merken die Verfassungsschützer an. Die Musik der Skin- und Neonazi-Szene findet ihren Weg zum Konsumenten ohnehin zunehmend durch die Datenleitung - mit Hilfe des Kompressionsverfahrens MP-3, das Musik-Dateien auf handliche Umfänge schrumpfen lässt. Das verweist auf einen zweiten Zweck, zu dem Skins, Neonazis und andere Rechte das Netz zunehmend nutzen: Der Verständigung untereinander. Per E-Mail tauscht man Informationen, Adressen und Termine aus. Versuche allerdings, der zersplitterten Szene auf diesem Weg eine politische Struktur zu geben, sind gescheitert. Mitte 1999 schalteten "Nordland-Netz" und "Thule-Netz" resigniert die Mailboxen ab. Dafür macht den Beobachtern etwas anderes ernste Sorgen. Seit einiger Zeit tauchen im Internet regelrechte Steckbriefe auf: "Schwarze Listen" oder "Hass-Seiten" mit den Namen, oft auch Adressen und Telefonnummern politischer Gegner. Mitte 1999 stießen Verfassungsschützer sogar erstmals auf zwei konkrete Mordaufrufe. Auf das Opfer, eine "Person aus dem linken Spektrum" war ein Kopfgeld von je 10 000 Mark ausgesetzt. In diesem Fall beließen es die Späher aus Köln nicht beim Beobachten: Nach kurzer Zeit war der anonyme Absender ermittelt.