taz Bremen, 3.4.2000 Seite 21

Aus Jung mach Alt, aus Alt mach Jung

Bremen macht minderjährige Flüchtlinge älter, um sie an andere Aufnahmeorte umverteilen zu können / Die Beamten bewegen sich mit dieser Praxis auf dünnem Eis

In der angolanischen Hauptstadt Luanda lebte Abdallah L. auf der Straße, allein. Sein Vater wurde zum Militär eingezogen und ist im Krieg verschollen. Seine Mutter trieb die Suche nach einem Lebensunterhalt ins Diamantengebiet um Lunda. Auch sie kehrte nicht zurück. Da entschloss sich der Junge mit dem Kindergesicht zur Flucht nach Deutschland.

In der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) in Bremen wurde Abdallah L. registriert. Mangels Papieren wurden seine Angaben zur Person ins Aufnahmeformular eingetragen. Aber als er sein Geburtsdatum 4. April 1986 nannte, stockte der protokollierende Beamte: Er sah den schlaksigen Jungen an und trug nach Rücksprache mit einer Kollegin das fiktive Datum 31. Dezember 1983 ein.

Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen: Als über 16-Jähriger gilt Abdallah L. ausländerrechtlich als Erwachsener. Er könnte folglich nach dem Länderschlüssel in die zuständige Aufnahmeeinrichtung geschickt werden und schlüge nicht bei den Bremer Sozialhilfekosten zu Buche. In diesem Falle hieß das: Abdallah L. musste sich innerhalb von 36 Stunden in Dortmund einfinden.

Da es Freitagnachmittag war, blieb keine Zeit für einen Widerspruch gegen die Alterseinschätzung. Abdallah L. blieb dennoch - illegal - in Bremen. Mit Hilfe der Bremer Angola-Gruppe fand er einen Anwalt: Folker Schönigt beantragte beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen eine einstweilige Verfügung gegen die amtliche Altersfestsetzung.

Daraufhin fand sich ein Kompromiss: Die Behörde akzeptierte eine eidessattliche Versicherung des Jungen über sein Geburtsdatum. Abdallah L. kündigte an, Dokumente über sein Alter vorzulegen. Er wurde wieder um zweieinviertel Jahre "verjüngt" und kann als Jugendlicher nun in Bremen bleiben - auch wenn er keine Dokumente beibringen sollte.

Für das Sozialressort ist die Altersschätzung bei jungen Flüchtlingen ohne Papiere ein alltäglicher Vorgang. "Die Beamten sind angewiesen, bei begründeten Zweifeln eine Einschätzung vorzunehmen", sagt Ressort-Sprecher Jörg Henschen. Dass es dabei zu Irrtümern kommen kann, ist offenkundig - zumal die Beamten für diese Tätigkeit nicht speziell ausgebildet sind.

Für den zuständigen Referatsleiter ist das gar kein Problem: "Die Flüchtlinge können ja jederzeit Dokumente über ihr tatsächliches Alter vorlegen. Wenn sie danach jünger als 16 Jahre sind, können sie nach Bremen zurückkehren", sagt Erhard Heintze. Er geht allerdings von einer "hohen Fachlichkeit" der Alters-Einschätzungen aus, da zuletzt 1993 zwei Minderjährige zurückkamen. Unklar ist allerdings, wie viele auf eine Rückkehr verzichteten oder ihr Alter einfach nicht belegen konnten. Nicht einmal der Umfang der Schätz-Praktik lässt sich ermitteln: Bremen führt keine Statistik über die Umverteilung - wer weg ist, wird nicht weiter registriert. Die einschätzenden Beamten unterliegen damit keinerlei Kontrolle.

Im Fall von Abdallah L. hat die Bremer Angola-Gruppe nun Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den federführenden Beamten eingelegt. Die Aktivisten vermuten, er habe den Angolaner zu alt geschätzt, weil er nach Kritik an einer "zu weichen" Schätzpraxis unter Druck stand. Mitarbeiter von Flüchtlingsunterkünften schlagen vor, das Alter von Flüchtlingen künftig erst nach einer Eingewöhnungsphase von einigen Wochen unter Einbeziehung ihrer Betreuer zu schätzen.

Noch weiter geht Manuel Fragoso von der Angola-Gruppe: Er fordert, wie in Belgien üblich, Personen aus dem Kulturkreis der Flüchtlinge an der Alterseinschätzung zu beteiligen, die sich auch vom Sprachvermögen der Neuankömmlinge ein Bild machen könnten. not