Tagesspiegel, 1.4.2000

Regierungskrise in der Türkei

Das Parteiensystem macht aus Macht Allmacht - doch die Jungen begehren auf

Thomas Seibert

Die Herren kennen die Situation aus jahrzehntelanger Erfahrung. Wenn es wieder einmal darum geht, in Ankara eine Regierungskrise zu bewältigen, sind Bülent Ecevit, Süleyman Demirel und ihre Altersgenossen in ihrem Element. Der 74-jährige türkische Ministerpräsident Ecevit und der um ein Jahr ältere Staatspräsident Demirel stehen auch jetzt wieder im Mittelpunkt des Geschehens: Ecevits Regierung hat wichtige Abstimmungen im Parlament verloren und steht möglicherweise vor dem Aus. Nichts besonders Neues für die beiden Veteranen, die in den vergangenen 40 Jahren insgesamt ein gutes Dutzend Regierungen bildeten. Schon der Anlass der aktuellen Krise zeigt, dass der Club der alten Männer in Ankara von der Politik einfach nicht lassen kann. Denn die Vorlage Ecevits, die im Parlament in erster Lesung scheiterte, hatte das Ziel, Demirel das Präsidentenamt zu sichern, bis das Staatsoberhaupt 81 Jahre alt ist. Doch womöglich ist die Krise auch Vorbote eines Generationswechsels.

"Unsere Kindheit, unsere Jugend und unsere mittleren Jahre haben wir mit Demirel verbracht", schrieb der Kommentator Oral Calislar am Freitag in der angesehenen Zeitung "Cumhuriyet". Besonders einen Gedanken Calislars dürften viele seiner Leser teilen: "Ich möchte in einem Land leben, in dem Demirel kein Amt mehr innehat. Es reicht." Dass so etwas wie Veränderung in der Luft liegt, glauben auch die jüngeren Kräfte bei den oppositionellen Islamisten erkannt zu haben. "Die Gesellschaft will Demirel nicht", sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der islamistischen Tugendpartei, Abdüllatif Sener, nach den Niederlagen der Regierung im Parlament.

Sener ist Vertreter einer Gruppe relativ junger Politiker bei den Islamisten, die ihre eigenen Probleme mit den Alten haben: Tugendpartei-Chef Recai Kutan ist auch schon 70 Jahre alt. Zudem ist Kutan ein enger Vertrauter des formell aus der Politik verbannten Strippenziehers der islamistischen Bewegung, Necmettin Erbakan (74). Die alte Riege erstreckt sich nicht nur auf die Türkei selbst, sondern auch auf den nur von Anakara als Staat anerkannten türkischen Nordsektor Zyperns. Dort stellt sich in zwei Wochen der 75-jährige Rauf Denktasch als "Präsident" zur Wiederwahl.

Demirel, Denktasch, Ecevit und Erbakan - zusammen gut 300 Jahre alt - bilden ein betagtes, aber nach wie vor quietschfideles Quartett, das die innen- und außenpolitischen Geschicke der Türkei seit Jahrzehnten mitbestimmt. Demirel wurde 1965 zum ersten Mal Ministerpräsident; Ecevit bildete zusammen mit Erbakan in Ankara die Regierung, als türkische Truppen 1974 den Nordteil Zyperns besetzten; 1982 rief Denktasch die "Türkische Republik Nordzypern" aus - im Zypernkonflikt wird sich nur wenig bewegen, solange er am Ruder ist.

Ein Grund für die jahrzehntelange Präsenz der alten Garde ist ihr unbestrittenes politisches Geschick. Fast noch wichtiger ist aber das türkische Parteiensystem, das einem Vorsitzenden die Allmacht über seine Gruppe einräumt - etwa durch das Recht, vor einer Wahl im Alleingang die Kandidatenlisten seiner Partei zu erstellen und damit innerparteiliche Rivalen zu disziplinieren.

Doch ewig werden selbst Demirel, Denktasch, Ecevit und Erbakan nicht an den Schalthebeln der Macht bleiben können. Eine Generation von Mitt-Fünfzigern, darunter die ehemaligen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz und Tansu Ciller, wartet ungeduldig auf die Chance, ganz nach oben zu kommen. Der Chef der türkischen Rechtsextremisten, Devlet Bahceli, gehört mit seinen 52 Jahren ebenso zu der jüngeren Riege wie Außenminister Ismail Cem (59). Yilmaz wird sogar nachgesagt, er wolle trotz seiner Zugehörigkeit zu Ecevits Koalition eine Wiederwahl Demirels als Präsident hintertreiben und selbst Staatsoberhaupt werden. Der Präsident hat bereits angekündigt, er wolle sich bei einem Scheitern seiner Wiederwahl wieder in die Parteipolitik stürzen. Während sich alte und junge Politiker in den Haaren liegen, können sich die mächtigen Militärs im Hintergrund darauf konzentrieren, dass ihnen das Staatsschiff nicht aus dem Ruder läuft. So krasse Generationsprobleme wie die Politiker kennen die Generäle nicht: Sie gehen mit 65 Jahren in Pension.