Frankfurter Rundschau, 31.3.2000

Der zerstörte Panzer, der kein Panzer war

Kosovo und der herrschende Mythos der Informationsüberlegenheit / Von Timothy L. Thomas

Der Krieg in Jugoslawien: Wussten Sie, dass es im Nato-Hauptquartier einen Spion gab, der nach Belgrad meldete, welche Ziele bombardiert werden sollten? Mit der Informationspolitik in diesem Krieg setzt sich Oberstleutnant a.D. Timothy L. Thomas im folgenden, gekürzten Beitrag auseinander. Er ist Analytiker beim Foreign Military Studies Office in Fort Leavenworth, Kansas/USA. Er war auch Leiter der Abteilung für sowjetische militärpolitische Angelegenheiten beim Russischen Institut der US-Armee in Garmisch. Parameters, das Fachblatt der Heeresakademie der USA, stellte seine Analyse jetzt ins Internet (http://carlisle-www.army.mil/usawc/Parameters/00spring/thomas.htm . Den Text übersetzte Regina Hagen.

Das US-Verteidigungsministerium brachte im März 1999 eine Broschüre über Informationsoperationen heraus. Die Broschüre beginnt mit einer Einleitung vom Vorsitzenden der US-Stabschefs, General Henry H. Shelton. Er stellt fest: "Informationsoperationen und Informationsüberlegenheit sind das Kernstück der militärischen Innovation und unserer Vision für die Zukunft der Kriegführung der gesamten Streitkräfte. (...) Die Fähigkeit, die Übersicht des Gegners über das Gefechtsfeld zu durchdringen, zu manipulieren und sogar zu versagen ist von größter Bedeutung." Die Broschüre des Pentagon konstatiert weiter: "(...) der wichtigste Schwachpunkt bei der Informationsüberlegenheit ist der menschliche Nutzer der Information. Wenn sie nicht wissen, wann, wo, warum, mit welchen Mitteln und wie sie vorgehen sollen, können die Kämpfer missionskritische Aufgaben nicht effizient und effektiv durchführen." In Kosovo traten leider Probleme mit dem Konzept auf. Zum einen wurde trotz der fast totalen Informationsüberlegenheit der Nato die Übersicht über das Gefechtsfeld von den serbischen Streitkräften öfter als erwartet manipuliert. Wurden menschliche und maschinelle Auswerter der Aufklärungsdaten in die Irre geführt, so wurde Munition auf vorgetäuschte oder falsche Ziele verschwendet, und die tatsächliche Situation auf dem Boden wurde falsch eingeschätzt. Daneben wurden auch missionskritische Aufgaben und die Trefferbilanz beeinträchtigt. War Letzteres der Fall, so gaben das Pentagon und die Nato unterschiedliche Schätzungen über die Zahl zerstörter gepanzerter Fahrzeuge heraus. Zum anderen schälte sich bei Anhörungen die Erkenntnis heraus, dass weder die Nato-Planer noch die menschlichen Nutzer der Daten angemessen auf die Durchführung von Informationsoperationen vorbereitet waren. So sagten beispielsweise am 14. Oktober 1999 in einer Anhörung vor dem Streitkräfteausschuss des US-Senats, in der Lehren aus dem Kosovo-Krieg gezogen werden sollten, Verteidigungsminister William Cohen und General Shelton aus, dass "die Auswahl an Personal zur Ausführung bestimmter Schlüsselfunktionen wie Sprachübersetzung, Zielauswahl und Auswertung der Aufklärungsdaten beschränkt war", und dass "die Durchführung einer integrierten Informationsoperationskampagne dadurch verzögert wurde, dass es sowohl an Vorausplanung als auch an der strategischen Führung bei der Auswahl von Schlüsselzielen mangelte". Mit der Planung wurde aber nach Aussage von Cohen und Shelton im Sommer 1998 ernsthaft begonnen, also etwa neun Monate vor Beginn des Konflikts am 24. März 1999.

Gehörten zur ursprünglichen Planung nicht auch Informationsoperationen? Und schließlich soll General Wesley K. Clark, Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte in Europa, kürzlich den Streitkräfteausschuss des US-Senats in Erstaunen versetzt haben, als er dazu aufrief, die westliche Strategie vollständig zu überdenken, und die Notwendigkeit des Luftangriffs auf Serbien in Frage stellte. General Clark gab zu bedenken, die Nato hätte legale Mittel einsetzen können wie eine Blockade der Donau und der Adriahäfen, und sie hätte "elektronische Methoden (nutzen) können, um Milosevic und die ihm nahe stehenden politischen Parteien zu isolieren". Wären diese Mittel eingesetzt und um weitere ergänzt worden, fügte Clark hinzu, so wären die militärischen Instrumente vielleicht nie zum Einsatz gekommen.

Diese und andere Aussagen beweisen, dass die Informationsüberlegenheit zumindest für den Moment ein Ziel ist, das erreicht werden soll, und nicht ein Fakt, den die US-Streitkräften einfach als gegeben hinnehmen können. Dieser Artikel untersucht den Konflikt zwischen der Nato und Jugoslawien nicht unter dem Gesichtspunkt, welche Ziele oder Erfolge der Luftkrieg hatte (obwohl das natürlich im Weiteren auch eine Rolle spielt), sondern gezielt im Hinblick auf die Informationsüberlegenheit. Informationsüberlegenheit versetzte die Nato in die Lage, dass sie fast alles über das Gefechtsfeld wusste, aber die Fachleute der Nato haben nicht immer alles verstanden, was sie zu wissen glaubten. Was ist Informationsüberlegenheit?

Bei der Informationsüberlegenheit, dem Grundpfeiler von Force XXI (die aktuelle Version der Air Land Battle-Doktrin, fasst die "Konzepte des 21. Jahrhunderts" der US-Streitkräfte zusammen; d.Ü.), handelt es sich um eine Fähigkeit (nicht um eine erwiesene Tatsache), die die US-Streitkräfte zu entwickeln suchen. Sobald das Konzept tragfähig ist, wird es die Unsicherheit verringern helfen, ein vollständigeres Aufklärungsbild des Gefechtsfeldes liefern und dazu beitragen, dass präzisionsgelenkte Geschosse die Ziele erreichen und zerstören. Ein beträchtlicher Teil dieser Fähigkeit kam kürzlich im Kosovo-Konflikt zum Einsatz. (...)

Die Informationsüberlegenheit der Nato

Die Bedingungen, um die totale Informationsüberlegenheit zu erlangen, waren ideal für die Nato. Es gab buchstäblich keine Abwehrmaßnahmen der (serbischen) Luftwaffe gegen die 37 000 Einsätze der Nato (die Serben flogen nur etwa zehn Sperrflug- oder Jet-Missionen). Die Nato war lediglich mit minimalen, antiquierten feindlichen Flugabwehrkanonen konfrontiert, die aus der Zeit zwischen den 50er und 80er Jahren stammen und maximal 1500 m hoch reichen. Sie war nicht wirklich vom feindlichen Radar bedroht, da die Flugabwehrsysteme, die weiter hinaufreichen, nicht eingeschaltet wurden. Die Nato konnte Ziele mit Hilfe der unbemannten Drohnen Predator (Raubtier) und Hunter (Jäger) sowie der zur Aufklärung eingesetzten Satelliten und JSTARS-Systeme punktgenau bombardieren - und es unterliefen ihr dennoch Fehler.

Zu Belgrad und Serbien standen massenhaft Aufklärungsinformationen zur Verfügung, die von etlichen kurz zuvor durchgeführten Feldübungen stammten. Es gab Unterstützung vom Boden, einschließlich von Angehörigen der Kosovo-Befreiungsarmee. Die Serben störten weder die Kommunikation noch die Radarsysteme. Eigentlich besaß die Nato die totale Informationsüberlegenheit. Und doch wurden bei der Auswahl von zu bombardierenden Zielen Fehler gemacht, der offensichtlichste war die chinesische Botschaft. Und trotz dieser Überlegenheit wurde beinahe ein Bodenkrieg begonnen. (...) Allerdings ging vom Luftkrieg das entscheidende strategische Zeichen der Nato aus. Dass Milosevic eingelenkt hat, sollte zu Recht fast vollständig dem Verdienst der Piloten und der Unterstützungstruppen zugeschrieben werden. Andererseits - was wurde mit dem Luftkrieg letztlich erreicht? Die Leistungen der Nato sollten an den politischen wie an den militärischen Maßnahmen gemessen werden.

Logischerweise stünde zu erwarten, dass die Regierung von Milosevic das Abkommen der zweiten Verhandlungsrunde von Rambouillet unterzeichnen würde oder eine vergleichbare, für Jugoslawien weniger vorteilhafte Vereinbarung. Schließlich war die Weigerung der Serben, das Abkommen von Rambouillet zu unterzeichnen, der Auslöser für den Krieg. Aber Rambouillet II wurde nicht unterzeichnet, und das Belgrader Abkommen verlangt Jugoslawien viel weniger ab. Folglich hat die Nato trotz des Luftkriegs nicht ihr eigentliches Ziel erreicht. Daher muss die Frage erlaubt sein, ob der Luftkrieg politisch deshalb erfolglos war, weil die Nato mit ihren ursprünglichen Forderungen überzogen hatte? Andererseits haben die Militärplaner angegeben, dass mit dem Luftkrieg der effektive Einsatz der jugoslawischen Streitkräfte in Kosovo behindert und schließlich deren Rückzug aus dem Kosovo erreicht werden sollte. Diese Ziele wurden durch den Einsatz der Luftstreitkräfte erreicht, und das kann niemand bestreiten. Gleichzeitig haben allerdings die jugoslawischen paramilitärischen und Polizeikräfte mit ihren ethnischen Säuberungsoperationen begonnen, und diese konnten mit dem Luftkrieg nicht ins Visier genommen werden. Der Luftkrieg war nicht geeignet, einzelne von Milosevic entfesselte Polizisten oder andere ethnischen Säuberer zum Ziel zu machen.

Wäre zur Verhinderung der ethnischen Säuberungen eine Bodenoperation nötig gewesen? Bedeuteten die Erfolge der internationalen Verhandlungsführer und die Drohung mit einer Intervention durch Bodentruppen zu einem Zeitpunkt, als Milosevic das Handtuch warf, dass der Luftkrieg "erfolgreich war, weil er scheiterte"? Konkret bedeutet das, dass der Luftkrieg nicht eigenständig zum Schlussspiel führte, sondern zusätzlich der kombinierten Drohung mit einer Bodenoffensive und des Verhandlungsgeschicks der russischen und finnischen Vermittler bedurfte. Der Jugoslawien-Konflikt ist es wert, dass man ihn genauer betrachtet und daraus lernt. Allerdings darf nicht der Fehler gemacht werden, Kosovo als typischen Konflikt der Zukunft anzusehen und künftige Eventualitäten danach auszurichten.

Die Nato und die US-Führung dürfen nicht damit rechnen, dass sie immer ohne Gegenwehr fliegen (oder ungehindert kommunizieren) können. Kosovo - und zu einem gewissen Maß auch die Golf-Operation Desert Storm - waren in dieser Hinsicht die Ausnahme. Gefährlich ist auch die Tendenz einiger Offizieller, Euphorie über die "einzigartigen" Nato-Kräfte und ihre konkurrenzlosen Fähigkeiten zu verbreiten. "Einzigartig" mit wem als Gegner - den Flugabwehrkräften Iraks oder Jugoslawiens? Weder die Nato noch die Vereinigten Staaten haben gegen einen modernen, gut ausgerüsteten Staat gekämpft. Und schließlich muss eine weitere Lehre gezogen werden: Selbst ohne Informationsüberlegenheit kann ein kluger Gegner Aktionen durchführen, die zu Gegenmaßnahmen zwingen. Clausewitz hatte diese Lektion in seinem Jahrhundert auch schon gelernt. Bilanz der Trefferzahlen: Was sollen wir glauben? Ein Hauptindikator für den Mythos der Informationsüberlegenheit ist die anhaltende Diskussion um die Trefferbilanz. Das gilt vor allem bei einer Gegenüberstellung der offiziellen Zahlen, die einerseits vom Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte in Europa und aus dem US-Verteidigungsministerium kommen, andererseits von Verteidigungsministerien aus anderen Ländern und unabhängigen Journalisten.

Die Sicht der Dinge von General Wesley Clark, Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte in Europa (Nato)

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass in der folgenden Analyse lediglich versucht werden soll, die Sorge darüber auszudrücken, dass zwischen den unterschiedlichen Zahlen eine Diskrepanz besteht. Es ist nicht der Versuch, General Wesley Clark in Zweifel zu ziehen. Er hätte sehr viel mehr Anerkennung dafür verdient, dass er die Allianz während des Konflikts zusammengehalten hat. General Clark zählt keine Panzer; er verlässt sich auf Zahlen, die ihm von anderen zugeliefert werden. Es ist aber fair, die Zahlen zu untersuchen, die ihm zugeliefert werden, sowie die Art, wie er die Zahlen einsetzte. Am 12. Juli, einen Monat nach Ende der Bombardierung, befasste sich die Navy Times mit der Aussage von General Clark vor dem Streitkräfteausschuss des US-Senats. Unter Bezug auf Daten, die ihm von seinen Mitarbeitern zusammengestellt worden waren, sagte Clark aus, dass die Berichte über Nato-Flugzeuge, die Attrappen beschossen sowie Kampf- und Schützenpanzer verfehlt hätten, eine konzertierte Desinformationskampagne gewesen seien. Vielmehr unterstrich er besonders die buchstäbliche Unverwundbarkeit der Nato-Flugzeuge und dass Kosovo für die Kriegführung einen neuen Standard gesetzt habe. Er erwähnte nicht, dass keine Luftwaffe Einsätze gegen die Nato flog. Er erwähnte auch nicht, dass die Begrenzung der Flughöhe auf mindestens 5000 Meter sicherstellen sollte, dass die "buchstäblich unverwundbare" Luftflotte der Nato keine Verluste hinnehmen muss.

Clark zufolge gehört zur Trefferbilanz die Zerstörung von 110 serbischen Panzern, 210 Schützenpanzerwagen und 449 Geschützen und Granatwerfern. Er stellte auch fest, dass die Nato von der Verwendung von Attrappen durch die Serben wusste und diese erkennen konnte. Die Trefferbilanz des US-Verteidigungsministeriums war geringfügig höher als die Schätzungen von Clark (120 Panzer, 220 Schützenpanzerwagen und 450 Artilleriegeschütze). Clark begründete später, warum die Trefferquote eventuell nicht so hoch war wie ursprünglich erwartet: Innerhalb der Nato war ein Spion, der Ziele an Belgrad verriet. Die Zeitschrift Pacific Stars and Stripes zitierte eine Aussage von Clark am 13. August, dass das Leck "so unübersehbar war wie die Nase in Ihrem Gesicht". Das ist sicherlich eine Form von asymmetrischer Verschiebung der Informationsüberlegenheit, und auch hier kommt wieder die menschliche Dimension ins Spiel. Selbst wenn die Informationsüberlegenheit total ist, kann man ein Ziel dann nicht zerstören, wenn der Feind von dem bevorstehenden Angriff weiß und das Zielobjekt versetzt oder gegen eine Attrappe austauscht.

Berichten zufolge wurden die Nato-Offiziellen mit der Nase darauf gestoßen, dass sie einen Spion unter sich hatten, weil bestimmte Ziele zwar auf Ziellisten aufgeführt wurden, aber noch vor einem Nato-Angriff offensichtlich geräumt wurden. Im September wurde die Kriegsbilanz des Pentagon um einen Monat verschoben, damit Lücken in der Aufstellung gepanzerter Fahrzeuge und Artilleriegeschütze, die tatsächlich zerstört worden waren, gefüllt werden konnten. Ein Bericht sagt aus, General Clark habe einem Pentagon-Offizier erzählt, dass in der Auswertung nur etwa 70 Prozent der zuvor ausgewiesenen Treffer bestätigt werden konnten. Dann wies Clark den Europäischen Kommandostab der USA (EuCom in der Nähe von Stuttgart; d.Ü.) an, ebenfalls neue Schätzungen auszuarbeiten. In einem späteren Bericht reduzierte Clark die Trefferbilanz und stellte fest, dass höchstwahrscheinlich nur 93 Panzer und 153 Schützenpanzerwagen zerstört wurden. Die Differenz - 17 Panzer und 57 Schützenpanzerwagen - entspricht fast zwei verstärkten Infanteriebataillonen. Für einen Kommandeur, der mit seinen Bodentruppen einen Angriff vorbereitet, würde das offensichtlich einen recht deutlichen Unterschied machen. Korrekte Trefferbilanzen sind für einen Bodenkommandanten unabdingbare Voraussetzung zur Manöverdurchführung. Sogar mit totaler Informationsüberlegenheit war es selbst noch etwa zwei Monate nach Ende des Konflikts nicht möglich, die Trefferzahlen einigermaßen präzise zu bestätigen, obwohl die Nato auf Kräfte am Boden zurückgreifen konnte und die abziehenden serbischen Fahrzeuge auch aus der Luft beobachtete. Da das US-Verteidigungsministerium und die Nato bis heute noch keine übereinstimmenden Zahlen vorlegen konnten, ist eindeutig die Methode fehlerhaft, eventuell gibt es zusätzlich noch ein anderes Problem. All diese Treffer wurden vom Cockpit aus aufgezeichnet, und viele davon wurden im Fernsehen gezeigt. Im Zeitalter der Informationsüberlegenheit sollten die Nato- und die Pentagon-Zahlen eigentlich nahezu identisch sein.

Trefferbilanz der britischen Presse und von anderen Journalisten

Aus unabhängigen Berichte von Pressekorrespondenten, die über die Schlacht um Kosovo berichteten, ergibt sich eine Trefferstatistik, die weit von der von General Clark oder dem Pentagon abweicht. Ihre Sicht der Dinge ist deshalb interessant, weil sie das Ergebnis von Vor-Ort-Analysen aus erster Hand ist, so wie die zuletzt abgegebenen Nato- und Pentagon-Schätzungen. Die ersten Presseberichte über Kriegszerstörungen erschienen Ende Juni. Sie zielten darauf ab, dass nur 13 serbische Panzer und weniger als 100 Schützenpanzerwagen zerstört wurden. Pressekorrespondenten sahen die Überbleibsel zahlreicher unterschiedlicher Attrappen, die von den Nato-Kräften getroffen wurden (z. B. verrostete Panzer mit kaputten Fahrzeugteilen oder Modelle aus Holz oder Segeltuch).

Carlotta Gall von The New York Times, eine erfahrene Kriegskorrespondentin, die bereits aus dem ersten Tschetschenien-Krieg berichtet hatte, konnte nur geringe Verluste erkennen. Newsweek-Reporter Mark Dennis fuhr zehn Tage lang kreuz und quer durch Kosovo und stieß dabei lediglich auf einen zerstörten Panzer. Schafften es die Serben etwa während ihres öffentlich gefilmten Rückzugs, all ihre zerstörten Fahrzeuge flott zu machen, versteckten sie sie, oder erlitten sie tatsächlich viel weniger Verluste, als Nato-Quellen vermuten ließen? Ende Juli berichtete Aviation Week and Space Technology, dass die Nato 3000 präzisionsgelenkte Geschosse eingesetzt und zwar 500 Attrappen, aber nur 50 jugoslawische Panzer getroffen habe. Der stellvertretende US-Verteidigungsminister John Hamre sicherte auch zu, dass alle 30 (andere Quellen sagen 20) Fälle von Kollateralschaden untersucht würden (Schläge auf Züge, Flüchtlingstrecks, Schulen, Krankenhäuser und auf bulgarisches Territorium). Welche Bombentypen nun tatsächlich die Attrappen trafen, wissen nur die Insider im Pentagon, daher können auch nur sie berechnen, wieviel Geld auf solche Ziele verschwendet wurde.

Das ist allerdings ein wichtiger Aspekt, weil schon früh im Kriegsverlauf die Nato- und US-Vorräte an Präzisionsmunition fast zur Neige gingen - ein Fakt, der zweifellos von anderen Nationen mit feindlicher Einstellung gegenüber der Allianz registriert und gesondert vermerkt wurde. Sie erhielten so einen Anhaltspunkt, wie lang eine Luftkampagne mit bestimmten High-Tech-Waffen gegen bestimmte Ziele geführt werden kann, bis es an Nachschub mangelt. U.S. News and World Report berichtete in seiner Ausgabe vom 20. September 1999, dass ein Nato-Team in Kosovo 900 "Zielpunkte" besuchte, die von der Nato beschossen wurden, und dabei nur 26 Panzer und ähnlich aussehende Wracks von Artilleriefahrzeugen mit Eigenantrieb entdeckte. Damit würde sogar die korrigierte Angabe der Nato, dass 93 Panzer zerstört wurden, hinfällig. Allerdings ist nicht bekannt, wie viel Panzerwracks in Serbien liegen, wo das Nato-Team keine Nachforschungen anstellte, so dass diese Zahl nicht so provokativ und widersprüchlich ist, wie es zunächst den Anschein hat.

Der Artikel berichtet auch über wachsende Spannungen zwischen General Clark und seinem Leiter der Nato-Luftoperationen, Generalleutnant Michael Short, bezüglich der Zielauswahl und -strategie (mobile Ziele wie Panzer versus Infrastrukturziele). Der Artikel kam zum Schluss, dass der Luftkrieg in Kosovo nicht durch die Luftschläge beendet wurde, sondern weil Russland den Serben die Unterstützung entzog. Der Artikel wies auch darauf hin, dass die barmherzigste Art, künftige Konflikte zu beenden, vielleicht sei, rasch und gewaltsam zuzuschlagen, anstatt wie in Kosovo schrittweise vorzugehen und herumzuprobieren. (...)

Asymmetrische Verschiebungen der Informationsüberlegenheit

Admiral James Ellis, Oberbefehlshaber der Alliierten Nato-Streitkräfte in Südeuropa, merkte in einem Interview über Kosovo im September 1999 an, dass zu viel Information potenziell die Übersicht eines Militärführers über eine sich anbahnende Situation verringert. Zu viele Daten führen zu einer Überlastung der Wahrnehmung: "Informationssättigung kommt noch zum ,Kriegsnebel' hinzu ... und gewinnt, sofern sie unkontrolliert bleibt, die Kontrolle über Sie selbst und Ihre Mitarbeiter und verlängert so die Entscheidungszyklen." Admiral Ellis weitete dieses Problem auch auf die Abhaltung von Videokonferenzen aus, da sie "unersättlich die Arbeitszeit der militärischen Führung und der wichtigsten Mitarbeiter auffressen". Das ist vielleicht die interessanteste und am meisten unterschätzte Lektion aus dem gesamten Krieg, dass ein Übermaß an Informationsüberlegenheit die Leistungsfähigkeit einer Mission beeinträchtigen kann. Ob dadurch die Panzerzählung beeinflusst wurde, ist nicht bekannt. Verteidigungsminister Cohen hat dieses Problem auch in seiner Rede in Kalifornien angesprochen. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die Informationsflut selbst vielleicht die Beurteilung der Situation am Boden durch die Experten verfälschte. Technische Systeme lieferten den "Beweis", dass ein Panzer zerstört wurde, obwohl das getroffene Ziel in Wirklichkeit gar kein Panzer war.

Admiral Ellis rief auch einige asymmetrische Reaktionen der Serben während des Konflikts in Erinnerung, wobei er auf Folgendes verwies: sporadischer Einsatz der Luftabwehr; irreführende Medienkampagnen; vorsätzliche Erhöhung des Risikos, dass Nato-Piloten Kollateralschaden verursachen; und Hervorrufen einer politischen Kluft zwischen den Nato-Verbündeten. Die serbischen Streitkräfte aktivierten ihre Luftabwehrsysteme nur bei Bedarf und verhinderten so, dass sie ausgeschaltet wurden. Folglich waren diese Systeme eine "konstante und latente" Bedrohung. Als Reaktion setzte die Nato ihre am meisten beanspruchten Systeme (z.B. die JSTARS- und AWACS-Flugzeuge) zusätzlich zur Suche nach Luftabwehrsystemen ein und ließ die Flugzeuge in mehr als 5000 m Höhe fliegen, so dass sie ihre Ziele nur schwer treffen konnten. Ellis stellte fest, dass die Nato den integrierten Luftabwehrsystemen der Serben nur wenig Schaden zufügte. (...) Nachträglich betrachtet ging die Nato mit der politischen Seite der Informationsüberlegenheit ebenfalls nicht erfolgreich um. Die Allianz konnte auf die kombinierten Systeme und den Kenntnisstand ihrer 19 Mitgliedstaaten zurückgreifen, um ein psychologisches und Verhandlungsprofil von Präsident Milosevic zu erstellen. Vor diesem Hintergrund hätten eigentlich politische Experten aus der ganzen Welt im Stande sein müssen, ein zuverlässiges Bild von Milosevics Absichten, Zielen und Ambitionen zu zeichnen. Darüber hinaus war die Nato bei den Verhandlungen von Rambouillet im Vorteil. Einige glauben allerdings, dass es falsch war, Milosevic ein Ultimatum zu stellen, das zum Abbruch der Gespräche führte. Viele Diplomaten gingen offensichtlich davon aus, dass das Ultimatum zur schnellen Kapitulation oder zum Rückzug von Milosevic führen würde. Das war aber nicht der Fall.

Das Ergebnis sieht stattdessen so aus: Bei der ersten Verhandlungsrunde in Rambouillet unterzeichneten die moderaten Albaner das Abkommen. Bei der zweiten Verhandlungsrunde unterzeichnete die UCK den Vertragstext in der Erwartung, dass in Kosovo innerhalb von drei Jahren Wahlen abgehalten werden würden und dass der Nato in Serbien freies Transitrecht zugestanden würde. Als dann schlussendlich das Belgrader Abkommen unterzeichnet wurde, war von diesen beiden Bedingungen nicht mehr die Rede.

Man kann nur hoffen, dass die Fachleute im Außenministerium diese Fehler im Verhandlungsprozess sowie die Unfähigkeit, Milosevic zum Einlenken zu bringen, im Detail analysieren. Genauso sollten die Militärs die Mängel in ihrem Umgang mit der Informationsüberlegenheit genau untersuchen. Schätzten beispielsweise die Diplomaten und die Vertreter des Militärs gleichermaßen die voraussichtliche Dauer dieses Konflikts falsch ein, weil sie sich an Milosevics Verhaltensmuster nach der Nato-Luftkampagne vom August 1995 orientierten? Die Konzessionen von 1995 waren vermutlich das Ergebnis sowohl der Luftschläge als auch der Bodenoffensive, die gleichzeitig in Kroatien durchgeführt wurde, also nicht nur Folge der Bombardements. Haben die Planer das übersehen?

Zweifellos war Milosevic in gewisser Weise unberechenbar, aber wir kannten ihn gut und hätten auf Grund früherer Gespräche und Aktionen im Stande sein müssen, seine Reaktionen mit einiger Zuverlässigkeit vorherzusehen. (...)

Schlussfolgerungen

Warum ist Informationsüberlegenheit ein gefährlicher Mythos? Vor allem, weil wir die Daten, die wir sammeln, nicht gut genug auswerten. Das heißt nicht, dass wir unseren Job schlecht erledigen, es heißt einfach, dass wir nicht so gut sind, wie wir glauben. Nachfolgend einige Beispiele für die oben erläuterten Mängel bei der Umsetzung der totalen Informationsüberlegenheit der Nato: Trotz der totalen Informationsüberlegenheit konnten wir keinen politischen oder diplomatischen Sieg erringen. Wie Saddam Hussein ist auch Milosevic immer noch an der Macht, und das Belgrader Abkommen war nur ein schwaches Abbild dessen, was in Rambouillet ursprünglich gefordert wurde. Trotz der totalen Informationsüberlegenheit konnte die Nato den Schwerpunkt der serbischen Streitkräfte, nämlich die Mordaktionen durch die Polizisten und Paramilitärs, nicht lokalisieren. Trotz der totalen Informationsüberlegenheit konnte Gerüchten oder einseitiger Berichterstattung nicht entgegengewirkt werden.

Um ein Beispiel zu zitieren, das in dieser Analyse nicht näher beleuchtet wird: Die Nato wusste trotz ihrer Informationsüberlegenheit auch nicht annähernd, wie viel kosovo-albanische Zivilisten vor Beginn der Bombardements getötet wurden. Anstatt 100 000 getöteter Opfer in Kosovo, von denen gerüchteweise zu hören war, sieht es jetzt so aus, dass die Zahl 10 000 der Wahrheit näher kommt. Hätte die Nato wegen 10 000 Menschen diesen Krieg geführt? Und bislang wurden sogar erst 2500 Leichen entdeckt. (...)

Während des Luftkriegs über Jugoslawien und Kosovo besaß die Nato die Informationsüberlegenheit. Wie oben gezeigt, ist Informationsüberlegenheit aber nicht genug, wenn die Analyse nicht angemessen ist. Daraus ergibt sich als eine Gefahr der Informationsüberlegenheit, dass Annahmen gemacht werden. Und eine weitere Gefahr ist die Überschätzung unserer eigenen Fähigkeiten. (...)

Die zivile Führungsspitze des Pentagon hat offensichtlich vor, einen offiziellen Bericht über Kosovo herauszubringen. Die Studie soll in drei Teile untergliedert sein und von unterschiedlichen Gruppen bearbeitet werden. Die drei Gruppen sollen sich mit folgenden Themen beschäftigen: Stationierung und Einsatz, Aufklärungsunterstützung für Operationen und Kriegführung im Bündnis und in einer Koalition. Es ist wichtig, dass die Gruppe, die sich mit Aufklärungsunterstützung befasst, das momentane Dogma der Informationsüberlegenheit untersucht und einige der fehlerhaften Daten und Eindrücke korrigiert, die sowohl Analytiker als auch Führungspersonen vom Kosovo-Konflikt verbreitet haben. (...) Die Chinesen sagen, dass man einen Krieg in unserer Zeit auf zwei Arten verlieren kann: indem man bei der Verteidigung der Informationsüberlegenheit versagt oder wenn man Fehlinformationen aufsitzt. Letzterem sollten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit widmen.

Aus dem Englischen von Regina Hagen.