Die Welt, 30.3.2000

Weltoffene Union?

Kommentar von Thomas Schmid

Es ist in Deutschland nicht einfach, über Zuwanderung und Asyl nüchtern zu sprechen. Dafür gibt es gute Gründe, die viel mit unserer Geschichte zu tun haben. Diese guten Gründe hatten lange eine schlechte Wirkung: Über dem Thema lag ein die praktische Behandlung behinderndes Tabu. Es ist der Linken nicht leicht gefallen, vom hohen Ross einer apriorischen moralischen Überlegenheit herabzusteigen. Mit Otto Schilys Wendung von den "Grenzen der Belastbarkeit" zeichnete sich eine Zäsur ab: Die Diskussion verließ die Welt der Wünsche und Visionen, sie nahm eine pragmatische Wende. Es wurde möglich und galt nicht mehr als inhuman, die Interessen auch des Zuwanderungslandes zu formulieren, auch in wirtschaftlichen Termini. Es hieß nicht mehr nur, dass wir aufnehmen sollen, es wurde auch erwogen, wen wir denn aufnehmen wollen. Es begann eine Debatte, in der die Haltung nicht mehr vom mahnenden Debakel der Vergangenheit vorgeschrieben sein sollte, in der diese Haltung vielmehr in der Gegenwart unter Abwägung von Humanität und Nützlichkeit ausgehandelt werden würde.

Diesem erfrischenden Realismus hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der Union einen schlechten Dienst erwiesen. Er sei, sagte er im Interview mit der "Woche", durchaus bereit, über ein Einwanderungsgesetz zu reden. Wir bräuchten die Zuwanderung von Menschen, die wir haben wollen - müssten dann aber auch den Mut haben, zu sagen, wen wir nicht wollen. So weit, so gut: Die offene Republik muss, weil sie die Republik ihrer Bürger ist, das Recht haben, über Ein- und Ausschluss zu befinden. Doch dabei belässt es Friedrich Merz nicht. Vielleicht im eiertänzerischen Bemühen, die ganze - also die weltoffene wie die weltfurchtsame - Union zu repräsentieren, fügt er hinzu: "Wenn man Spezialisten holen will, kann man das Asylrecht nicht unangetastet lassen."

Über die Umwandlung des Asylrechts in eine institutionelle Garantie muss geredet und gestritten werden können. Und erst recht ist es legitim und notwendig, eine angemessene Verteilung von Asylbewerbern auf alle Staaten der EU zu fordern - wogegen sich zahlreiche dieser Staaten mit schäbigen Argumenten wehren. Eines aber geht nicht und ist auch moralisch nicht vertretbar: einen unmittelbaren Nexus zwischen Spezialisten (die wir haben wollen) und Asylbewerbern (die wir nicht haben wollen) herzustellen. Wohl dürfen wir bemüht sein, die Zahl der Asylbewerber zu mindern - etwa durch schnellere Verfahren oder die breitere Verteilung in Europa. Es ist uns aber nicht gestattet, Spezialisten und Asylbewerber gegeneinander aufzurechnen - was Friedrich Merz mit seinen Äußerungen zumindest nahe legt.

Auf dem einen Feld formulieren wir utilitaristisch und ganz unsentimental unsere Wünsche als ein Land, das Einwanderungsland ist und Zuwanderung offensichtlich braucht. Auf einem ganz anderen Feld sind wir - auch ohne das NS-Menetekel im Rücken - als ein Land, das aus freien Stücken liberal ist und auf praktische Barmherzigkeit nicht verzichten kann, angehalten, Menschen aufzunehmen, die an Leib und Leben bedroht sind. Das ist, wie Carlo Schmid schon 1948 schrieb, immer auch "eine Frage der Generosität". Die Union bringt sich nicht à jour, wenn sie nur das für sie neue Lied vom Nutzen der Zuwanderung singt.