Frankfurter Rundschau, 24.3.2000

"Kollateral-Schaden würde ich heute nicht mehr sagen"

Jamie Shea über Wahrheit und Propaganda während des Kosovo-Krieges: Realität nicht hinter Militär-Jargon verstecken

Er war der Verkäufer des Krieges: Jamie Shea, Brite mit irischer Abstammung und Londoner Akzent, musste als Nato-Sprecher im vergangenen Jahr der Öffentlichkeit erklären, warum das westliche Bündnis erstmals den Versuch unternahm, den Frieden in Europa durch einen Krieg zu reparieren. Seine weltweit übertragenen täglichen Pressekonferenzen mit ihrer Mischung aus militärischer Information und moralischer Legitimation machten den eloquenten Historiker zum gefeierten Helden der Kosovo-Albaner. Sie trugen ihm aber auch den Vorwurf ein, die grausame Realität beschönigt und mit allzu viel Pathos überhöht zu haben. Über Wahrheit und Propaganda sprach der Berliner FR-Korrespondent Knut Pries, der damals für diese Zeitung aus Brüssel berichtete, mit Jamie Shea.

FR: Herr Shea, Sie haben den Ausdruck "Kollateral-Schaden" - Unwort des Jahres in Deutschland - aus Ihrem Vokabular gestrichen. Was würden Sie heute sagen? Jamie Shea: "Bedauerlicher Unfall", "unbeabsichtigte Tötung und Verletzung von Zivilisten" oder ähnliches. "Kollateralschaden" stammt aus dem Militär-Jargon. Uns hätte klar sein müssen, dass ein solcher Ausdruck unter den Umständen unsensibel war. Eine der Lehren, die ich aus dem Kosovo-Krieg gezogen habe, ist, dass man möglichst präzise sein muss und nicht die Realität hinter Jargon verstecken darf.

Haben sich auch die Militärs diese Einsicht zu eigen gemacht?

Ja. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Militärsprecher den Ausdruck heute noch benutzen würde. Kosovo war der erste Krieg der Nato, eine Lernerfahrung für uns alle. Wir haben gelernt, dass man die richtige Sprache verwenden muss, genauso wie richtige Informationen.

Kriegsinformationen durch Beteiligte bestehen aus Wahrheit, Propaganda und Desinformation. Wie war die Mixtur im Falle Kosovo bei der Nato?

Ich bin der letzte, der behauptet, die Medien-Kampagne - für die ich verantwortlich war - sei perfekt gewesen. Dennoch denke ich, unter den gegebenen Umständen haben wir anständige Arbeit abgeliefert. Die breite Öffentlichkeit ist ja - gottseidank - Krieg in Europa seit 1945 nicht mehr gewöhnt und merkt erst, was los ist, wenn die erste Bombe fällt. Dann muss man in klarer Sprache erklären, warum man zu extremen Mitteln greift, und eine moralische Begründung dafür liefern. Ich habe aber immer darauf bestanden, dass diese Begründung der Wahrheit entspricht. Das ist zu 95 Prozent der Fall gewesen. Die restlichen fünf waren aber keine Lügen, auch keine Manipulationen. Es waren Fehler.

Welche?

Zu Beginn hat der Informationsfluss von den Einsatz-Kommandos zum Nato-Hauptquartier nicht gut funktioniert, das ging später viel zügiger. Hinzu kamen unsere eigenen Schwierigkeiten, an korrekte Informationen zu kommen. Wir hatten im Kosovo ja keine Bodentruppen. Milosevic konnte die Informationen über die Lage am Boden kontrollieren, vor allem die Bilder. Von Beratungen in der Nato kann ich als Teilnehmer ein ziemlich objektives Bild liefern. Im Kosovo-Krieg musste ich wie ein Journalist arbeiten: Ich habe General X angerufen und gefragt: Was ist passiert? Und dann bei General Y nachgehört: Stimmt das, was General X gesagt hat? Wenn Sie sich auf das stützen müssen, was andere erzählen, kommt es zu Fehlern.

Haben Sie im Rückblick den Verdacht, als Abnehmer von Informationen der Nato- und US-Militärs selbst das Opfer von Desinformation geworden zu sein?

Ich habe immer so viele Quellen benutzt wie möglich. Nach dem Beschuss eines Traktor-Konvois bei Jakovica, der für uns ein größerer PR-Rückschlag war, haben auch die Militärs begriffen, dass sie die Fakten genauer recherchieren müssen. Wir haben in der zweiten Hälfte des Krieges im wesentlichen ein zutreffendes Bild geliefert. Sie dürfen nicht übersehen, wie die Bedingungen heute sind. Churchill hat im Zweiten Weltkrieg eine Pressekonferenz pro Monat gegeben, das war's. Heute kommt CNN und verlangt 15 Briefings am Tag. Während der 78 Tage des Krieges haben sich die Medien rund um die Uhr darauf konzentriert. Oder erinnern Sie sich noch an irgendwas anderes - Wahlen, Katastrophen, irgend etwas? Im Krieg wollen die Medien stündlich mit Nachrichten gefüttert werden. Trotzdem soll alles hundertprozentig stimmen - das funktioniert nicht. Wir haben aber unsere Fehler so ernst genommen wie unsere Erfolge - allein zum Beschuss des Trecker-Konvois haben wir fünf Pressekonferenzen abgehalten. Nur wenn du deine Fehler einräumst, glaubt man deine Erfolge. Das ist das Gegenteil von Propaganda.

Wie passt das zu dem Umgang mit dem Beschuss der Eisenbahnbrücke von Grdelicka am 12. April. Uns wurde per Video der Eindruck vermittelt, der Pilot habe keine Zeit gehabt zu erkennen, dass ein Zug auf die Brücke fuhr. Dies Video lief mit fünffacher Geschwindigkeit. Das hat die Nato erst auf Druck durch die Presse zugegeben und am Ende den Vorfall als "alte Geschichte" bagatellisiert.

Erstens: Wir haben das Band vorgeführt, sonst hätte es überhaupt keine Geschichte gegeben. Zweitens: Wir haben den irrtümlichen Beschuss des Zuges sofort zugegeben. Die Beschleunigung der Bänder dient der schnelleren Analyse der Treffer-Wirkung. Stimmt schon: Wir hätten das erkennen und korrigieren müssen. Aber das war keine Manipulation!

Welche Informationen von damals hätten Sie im Lichte der mittlerweile zur Verfügung stehenden Fakten zu korrigieren?

Wenige. Ich habe mich stets sehr zurückhaltend ausgedrückt: Ich habe nie von 100 000 Opfern der Serben oder von Völkermord gesprochen. Das Haager Tribunal hat von vermuteten 550 Orten von Kriegsverbrechen bislang rund 200 inspiziert und dabei 2150 Opfer gefunden. Das liegt ziemlich nahe bei dem, was ich während des Kriegs gesagt habe. Ich habe mich auch gegen die Aufforderung gewehrt, unbestätigte Berichte über die Zerstörung serbischer Panzer zu verbreiten.

Etwa nach zwei Monaten präsentierte die Nato eine völlig übertriebene Bilanz ihrer Erfolge gegen die Kriegsmaschine von Präsident Milosevic . . .

. . . die wir später korrigiert haben, richtig. Im September haben wir aus freien Stücken eine abschließende Statistik veröffentlicht. Die Zahlen waren niedriger, aber nicht in dramatischem Ausmaß. Den ein oder anderen getroffenen Panzer hatten wir doppelt gezählt, aber das bewegte sich in der Größenordnung von 30, nicht von tausend. Man kann die Akkuratheit in diesem Zusammenhang nicht an wissenschaftlichen Standards messen, sondern nur an der früherer Konflikte.

Steckte die Nato nicht in einem Dilemma, weil die offizielle Information auch ein Mittel der psychologischen Kriegsführung war?

Das habe ich immer abgelehnt. Psychologische Operationen können in Konflikten ein legitimes Mittel sein. Sie sollten aber meiner Meinung nach von der öffentlichen Informationspolitik streng getrennt werden.

Warum hat Milosevic sich dann eigentlich ergeben?

Dafür gibt es keine definitive Erklärung. Ich glaube, er hat erstens nach dem Washingtoner Gipfel eingesehen, dass wir uns nicht entzweien würden. Zweitens haben wir zwar nicht viele Panzer zerstört, aber Milosevic musste erkennen, dass unsere Luftangriffe nach und nach die militärische Infrastruktur vernichten würden, auf die sein Regime angewiesen ist. Drittens hatte er Angst vor einer Boden-Offensive. Und schließlich war da der Umstand, dass die Russen sich immer deutlicher hinter unsere Position gestellt haben. Er hat wohl überlegt, dass er Kosovo aufgeben muss, wenn er nicht ganz Jugoslawien verlieren wollte.

Sind Sie immer noch überzeugt, dass die Nato alles getan hat, "Kollateralschäden" zu vermeiden?

Ohne Abstriche, ja. Natürlich haben sich die Medien auf die Fehler gestürzt. Aber wie ist das Gesamtbild? Von 23 400 Bomben haben 30 nicht ihr Ziel getroffen. Die Präzision war enorm. Dies war nicht wie im Zweiten Weltkrieg, als viele Städte gewaltige Zerstörung erlitten und unzählige Zivilisten getötet wurden. 50 Prozent unserer legitimen militärischen Ziele haben wir nicht angegriffen, weil es zu riskant war. Von 50 Prozent der Flugeinsätze kehrten die Piloten zurück, ohne gefeuert zu haben. Nach dem Beschuss der Traktor-Kolonne haben wir keine Konvois mehr beschossen. Nach dem Beschuss der chinesischen Botschaft haben wir die Ziele-Liste für Belgrad revidiert. Das ist doch das Paradox: Je seltener Fehler passieren, desto größer der Schock, wenn doch einer passiert. Wir dürfen aber nicht den Eindruck erwecken, Krieg sei heutzutage ein Computer-Spiel.

Sie haben über das Verhältnis der Intellektuellen zum Ersten Weltkrieg promoviert. Sind wir seither der Wahrheit über einen Krieg näher gekommen, oder werden wir nur subtiler belogen?

Damals wusste die Öffentlichkeit noch lange nachher nichts über die Ereignisse an der Westfront. Heute bekommt sie immerhin 70 Prozent der Wahrheit sofort und den größeren Teil des Restes wenig später.