Die Welt, 24.3.2000

"Das Einwanderungsgesetz kommt"

Der grüne Abgeordnete Cem Özdemir will Artikel 16 aber nicht antasten

Berlin - Die Green-Card-Debatte eröffnete eine neue Runde in der Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sein will. Armin Fuhrer sprach mit dem grünen Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir über Chancen und Risiken zusätzlicher Einwanderung. DIE WELT: Durch den Green-Card-Vorstoß von Kanzler Gerhard Schröder ist die Debatte um ein Einwanderungsgesetz wieder belebt worden - mit einer merkwürdigen Koalition zwischen Grünen, Union und FDP gegen Teile der SPD.

Cem Özdemir: Ich sehe eher eine Koalition aus Grünen, Industrie, Schröder sowie Teilen der SPD gegen die Latzhosen-Fans, gegen die Modernisierungsverweigerer bei Teilen der SPD und der Union. Wir sagen: Man kann nicht Wirtschaft und Sozialsystem modernisieren und sich dann gegen eine Reform im Bereich Einwanderung stellen. Das ist ein klassischer Konflikt zwischen denen, die den Standort Deutschland fördern wollen und denen, die glauben, die Globalisierung verhindern zu können. Und diese Leute sitzen interessanterweise zurzeit eher in der Union. Mir aber scheint klar zu sein, dass es ein Einwanderungsgesetz geben muss und wird - wenn auch wohl angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht in dieser Legislaturperiode. Aber trotzdem muss jetzt die Debatte geführt werden.

DIE WELT: Wenn Rot-Grün auch nach der nächsten Bundestagswahl 2002 weiter regieren kann, müsste ein solches Einwanderungsgesetz dann Bestandteil des Koalitionsvertrages sein?

Özdemir: Ja, und zwar in angemessener Form. Und danach kann man die Fragen anpacken, die dann geregelt werden müssen: Wer kommt rein, wie viele kommen rein, welche Integrationsleistungen bieten wir an und so weiter.

DIE WELT: Die Union hat ja Zustimmung signalisiert - allerdings nur unter der Bedingung, dass dann das Grundrecht auf Asyl nach Artikel 16 abgeschafft wird.

Özdemir: Ich halte das für ein vergiftetes Angebot, auch wenn das sicher nicht für alle in der Union gilt. Fraktionschef Friedrich Merz wurde offenbar aus Bayern wieder zurückgepfiffen. Die Vorstellungen der Union haben nicht viel mit dem zu tun, was wir uns vorstellen. Das ist auch kein ernst gemeintes Angebot. Für uns steht der Artikel 16 nicht zur Disposition. Selbst für die ja auch von uns angestrebte Europäisierung des Asylrechts müsste er nicht abgeschafft werden, weil er leider, leider so weit eingeschränkt ist, dass die Notwendigkeit gar nicht besteht. Wir wollen, wie in Tampere vereinbart, die GFK als Grundlage für europäische Mindeststandards in der Asylpolitik sehen, dass wir in Europa so viel wie möglich regeln und Mindeststandards nach der Genfer Flüchtlingskonvention festlegen. Dagegen haben wir in Deutschland, was die Regeln für die Einwanderung betrifft, viel nachzuholen. Das zeigt die Debatte über die ausländischen Computerexperten ja sehr deutlich. Da brauchten wir vor allem viel mehr Politiker, die überhaupt verstehen, wovon die Rede ist und die wissen, dass wir flexibel und unbürokratisch auf den Mangel an IT-Kräften reagieren müssen.

DIE WELT: Mit Blick auf das Einwanderungsgesetz gibt es in der Bevölkerung nach wie vor große Vorbehalte.

Özdemir: Das liegt an der babylonischen Verwirrung, die hier herrscht. In der Vergangenheit wurde so diskutiert, dass der Eindruck entstand, es geht um ein Gesetz, mit dem wir unkontrollierten Zugang schaffen wollen. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. . .

DIE WELT: ... deswegen nennt die FDP ihren Gesetzesentwurf auch Zuwanderungsbegrenzungsgesetz.

Özdemir: Das halte ich für falsch. Mit diesem Begriff transportiert man zugleich Angst. Dafür haben wir aber doch gar keine Veranlassung. Einwanderung hat uns in der Vergangenheit gut getan, und sie wird uns auch weiterhin gut tun. Wir plädieren für eine kontrollierte Einwanderung, die den Interessen der Einheimischen und der Wirtschaft Rechnung trägt. Allerdings wollen wir natürlich auch die humanitären Aspekte der Einwanderung berücksichtigen, zu denen Deutschland als reiches Land verpflichtet ist. Unsere Aufgabe ist es, die Risiken, aber auch die Vorteile und die Chancen zu benennen.

DIE WELT: Welche Personengruppen werden bei einem Einwanderungsgesetz einbezogen - die eigentlichen Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber?

Özdemir: Asyl ist im Grundgesetz geregelt. Da brauchen wir kein Einwanderungsgesetz. Migranten: ja - und oft werden die Aussiedler vergessen, die ebenfalls dazugehören. Es ist nicht logisch, sie anders zu behandeln als die anderen. Das gilt auch bei der Integration. Sie sollten genauso an den Sprach- und Integrationskursen teilnehmen.

DIE WELT: Sollte es zu einem Einwanderungsgesetz kommen, müssten dann nicht die Kompetenzen in der Ausländerpolitik an einer Stelle gebündelt werden?

Özdemir: Ja, das wäre notwendig. Ich habe kürzlich einmal versucht herauszufinden, was wir eigentlich alles für die Integration tun - ich habe es nicht abschließend zusammentragen können, weil unsere zahlreichen Aktivitäten an vielen verschiedenen Stellen angesiedelt sind. Ideal wäre ein Ministerium für Einwanderung und Integration, das sich der heißen Eisen wie Sprachförderung und Integration annehmen könnte. Zudem haben die Länder viele Entscheidungsbefugnisse. Hier könnte ein Ministerium allerdings nur beratend tätig werden. In dieser Legislaturperiode wird es sicher ein solches Ministerium nicht mehr geben. Aber in der nächsten müssen wir ernsthaft darüber reden.