taz, 22.3.2000

Polizeiatteste gegen das Bleiberecht

Ärzte, Psychologen und Verwaltungsrichter werfen Polizeimedizinern vor, traumatisierte Kriegsflüchtlinge politisch motiviert und fachlich falsch zu begutachten. Die Innenverwaltung will dennoch an den Zwangsuntersuchungen festhalten. 20 Flüchtlinge wurden bereits abgeschoben von SABINE AM ORDE

Bosiljka P.* leidet an Schwitzen, Zittern und Herzklopfen. Sie hat Alpträume, Erinnerungslücken und immer wieder tauchen diese schrecklichen Bilder in ihrem Kopf auf. Bilder von maskierten serbischen Soldaten, die die heute 39-jährige Bosnierin gemeinsam mit anderen muslimischen Frauen in ein Haus schleppten. Dort vergewaltigten sie eine nach der anderen. Der Rest musste zuschauen. Bosiljka P. konnte entkommen, bevor sie an der Reihe war.

Bald darauf wurden die Bewohner ihres Ortes zusammengetrieben und nach Geschlechtern getrennt. Bosiljka P. musste mitansehen, wie Männer misshandelt und getötet wurden, wie ihr Ehemann geschlagen wurde und unter einen Panzer fiel. Seitdem hat sie ihn nicht mehr gesehen. Später floh sie mit ihren beiden Söhnen nach Berlin. Hier wurden sie zunächst als Bürgerkriegsflüchtlinge geduldet. Dann durften sie aufgrund der psychischen Krankheit der Mutter bleiben - denn traumatisierte Flüchtlinge, darauf hat sich die Innenministerkonferenz geeinigt, werden nicht abgeschoben. Bosiljka P. leidet an einer so genannten posttraumatischen Belastungsstörung, das hat ihr eine Psychologin attestiert. Die Bosnierin ist in therapeutischer Einzelbehandlung, einmal in der Woche nimmt sie zudem an einer Gruppe für traumatisierte Frauen teil.

Doch die Behörden zweifeln an der Krankheit, die Bosiljka P. ein Bleiberecht in Deutschland gibt. Sie bestellten die Bosnierin zu einem Polizeiarzt. Der teilte die Diagnose seiner niedergelassenen Kollegin nicht: "Von Bosiljka P. kann die Beachtung der Ausreiseverpflichtung verlangt werden", so das Fazit seines knappen Gutachtens. Geht Bosiljka P. nicht gerichtlich gegen die Polizeidiagnose vor, muss sie Berlin verlassen.

Alle traumatisierten Bosnier sollen überprüft werden

Bosiljka P. ist kein Einzelfall. Im vergangenen Jahr wurden 300 bosnische Kriegsflüchtlinge, die aufgrund ihrer Traumatisierung nicht abgeschoben werden dürfen, zum Polizeiärztlichen Dienst (PÄD) zitiert. Nach Angaben der Berliner Innenverwaltung haben die Polizeiärzte 80 Prozent von ihnen die Traumatisierung abgesprochen. 20 der Flüchtlinge, die nun nicht mehr als psychisch krank gelten, seien inzwischen abgeschoben worden. Insgesamt gelten derzeit 800 der 10.000 noch in Berlin lebenden Bosnier als traumatisierte Kriegsflüchtlinge. Alle sollen auf Weisung der Innenverwaltung vom PÄD überprüft werden.

Diese Zwangsuntersuchungen haben Ärzte und Psychologen des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer (BZFO) scharf kritisiert. "Die Mitarbeiter des PÄD werden ihrem diagnostischen Auftrag nicht gerecht", heißt es in einer Studie, die das BZFO Anfang der Woche vorgestellt hat. Ihr Fazit: Die Gutachten seien fachlich inkompetent und politisch motiviert. Im Sinne ihres Dienstherrn, CDU-Innensenator Eckart Werthebach, ermöglichten sie die Abschiebung der Flüchtlinge.

Für die Studie hat die Psychologin Angelika Birck Atteste niedergelassener Ärzte zu insgesamt 26 Flüchtlingen, darunter Bosiljka P., mit denen der Polizeiärzte verglichen. Birck stellte fest, dass die Polizeimediziner die Beschwerden der Flüchtlinge häufig nicht als Krankheiten anerkennen oder leugnen, dass die Ursachen der Symptome die traumatischen Erlebnisse im Heimatland sind. Die Konsequenz: Sie sehen nur bei 5 der 26 Flüchtlinge Behandlungsbedarf.

Bei Bosiljka P. zum Beipiel, sagt Birck, hätte der Polizeiarzt hervorgehoben, dass P. selbst nicht vergewaltigt worden sei und ihre Krankheit erst nach der Flucht in Deutschland aufgetreten sei. Auch das Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung berücksichtigte der Polizeiarzt nicht. "Das alles entspricht nicht dem internationalen Forschungsstand", so Birck.

Doch die Kritik des BZFO setzt schon früher an. Während die niedergelassenen Ärzte die Muttersprache der Flüchtlinge beherrschen oder professionelle Dolmetscher hinzuziehen, werden die Flüchtlinge aufgefordert, zu ihrem Termin beim Polizeiarzt "eine sprachkundige Person mitzubringen". Mit solchen Übersetzungen aber könne man "nicht zu gültigen medizinischen Aussagen kommen", sagt Birck. Das Verwaltungsgericht hatte bereits im vergangenen Jahr kritisiert, dass ein achtjähriges Mädchen bei der polizeiärztlichen Untersuchung seiner Mutter dolmetschen musste. Dies wertete das Gericht als "offensichtlichen, durch nichts zu rechtfertigenden ärztlichen Kunstfehler". Aufgrund dieser und anderer Vorfälle hat der Verwaltungsrichter Norbert Kunath Zweifel an der fachlichen Eignung der Polizeiärzte und auch am "Willen, eine ernst gemeinte Untersuchung durchzuführen".

"Eine sinnlose Quälerei von Kranken" sind die polizeiärztlichen Untersuchungen für Ferdinand Haenel, Psychiater beim BZFO. Haenel und seine Kollegen kennen die Folgen der Untersuchungen. Häufig verunsichere allein die Vorladung zur Polizei ihre PatientInnen zutiefst. "Eine solche Befragung kann einen akuten Rückfall bis hin zur Suizidgefährdung auslösen", sagt der Leiter des Behandlungszentrums, Christian Pross.

Für Eberhard Vorbrodt, selbst Arzt und Sprecher des Berliner Flüchtlingsrats, ist die Auseinandersetzung um die traumatisierten Kriegsflüchtlinge aber nur die Spitze des Eisbergs. "Der Konflikt mit den Polizeiärzten ist ja schon mehr als zehn Jahre alt", weiß Vorbrodt. "Der PÄD stimmt immer zu, auch wenn wenn ein Afrikaner mit dem Vollbild Aids nach Kenia abgeschoben werden soll oder ein traumatisierter Tamile nach Sri Lanka." Auch die medizinische Versorgung von Abschiebehäftlingen, für die der PÄD ebenfalls zuständig ist, gerät immer wieder in die Kritik.

Gerichtliche Überprüfungen widerlegen Polizeiärzte

Doch den Ärzten und Psychologen geht es auch um ihren eigenen Stand. Durch die Rede von Gefälligkeitsgutachten und die Weisung, alle Atteste zu überprüfen, habe die Innenverwaltung sie dem Pauschalverdacht ausgesetzt, nicht korrekt zu arbeiten. "Den Verdacht, Gefälligkeitsgutachten auszustellen, weisen wir aufs Schärfste zurück", sagt BZFO-Chef Pross.

Dieser Vorwurf hat auch die Ärztekammer auf den Plan gerufen, die sich seit langem um einen fachlichen Austausch mit dem PÄD bemüht. Dass die Innenverwaltung hier mauert, macht Kammerpräsident Jonitz skeptisch: "Wenn sich die Innenverwaltung auf einen fachlichen Austausch nicht einlässt, setzt sie den PÄD dem Vorwurf aus, dass er vorsätzlich Gefälligkeitsgutachten im Sinne der Innenverwaltung ausstellt", sagt Jonitz (siehe Interview). Sanktionsmöglichkeiten wie bei niedergelassenen Ärzten aber hat die Kammer bei den Beamten des PÄD nicht.

Bosiljka P. kann nun klagen, wie es viele ihrer Landsleute bereits getan haben. Schlechte Chancen hätte sie nicht. Allein bei der 35. Kammer des Verwaltungsgerichts sind derzeit über 70 Verfahren gegen Gutachten des Polizeiärztlichen Dienstes anhängig. Für sie hat Richter Norbert Kunath erneut Gutachten in Auftrag gegeben, diesmal bei gerichtlichen Sachverständigen. 27 dieser Gutachten liegen bereits vor. Sie alle bestätigen die Trauma-Diagnosen der niedergelassenen Mediziner, kein einziges gibt den Diagnosen der Polizeiärzte Recht, so der Richter. In einem seiner Beschlüsse kritisierte er bereits im Dezember die Entscheidung der Innenverwaltung, alle Bürgerkriegsflüchtlinge, die per Attest eine Kriegstraumatisierung geltend gemacht haben, generell einer polizeiärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Weil dies "gegen den Grundsatz der verhältnismäßigkeit und gegen das Übermaßverbot verstoße", so Kunaths Beschluss, seien die Untersuchungen "verfassungsrechtlich unzulässig".

An diesen Beschluss aber fühlt sich die Innenverwaltung nicht gebunden. "Der gilt nur für den Einzelfall", sagt der Sprecher der Innenverwaltung. Auch die Kritik an den Polizeiärzten weist er zurück: Es sei "vermessen" zu behaupten, der PÄD sei angehalten, "so zu entscheiden, wie es der politischen Linie des Hauses entspricht". Die Innenverwaltung wird an ihrer Linie festhalten: "Wir werden die Untersuchungen bei allen durchführen." Schließlich bekämen Flüchtlinge, die sich auf Traumatierung berufen, ein Aufenthaltsrecht in Berlin. "Das ist kostenträchtig für das Land."

*Name geändert, die Daten der Studie sind anonym